Donnerstag, 28. Dezember 2017

Herzensangelegenheiten

17. August 1960: Irgendwie ist er unzufrieden. Klar: Sie dürfen heute live auftreten, und das Publikum hier in Hamburg scheint sie zu mögen. Aber sein bester Kumpel ist ihm immer ein bisschen zu gut gelaunt, der andere Gitarrist ein wenig zu ambitioniert, und der Schlagzeuger kommt immer seltener zur Bandprobe. Außerdem fehlt ihm die schlechte Luft von Liverpool. Wer hätte das gedacht? Eines Tages, da ist er sicher, werden sie die größte Band der Welt sein. Größer als Jesus. Eine Revolution starten. Man muss es sich nur vorstellen.

18. Juni 1967: Brian Jones nennt ihn einen Freund und "den aufregendsten Performer, den ich je gehört habe". Die Massen vor der Bühne jubeln, aber sie jubeln praktisch immer. Gras und Liebe überall, sie träumen von einer besseren Zeit. Er will eigentlich nur Musik machen, die Musik in seinem Kopf und seinem Herzen. Er spielt die Gitarre wie niemand zuvor. Sie ist ihm Geliebte und Gegner, Anker in der Not und Brücke nach außen. Er lässt sie singen und schreien und weinen. Dann spielt er einen Song von Bob Dylan und verändert die Welt.

16. August 1974: Ihr Konzept geht auf. Gleiche Frisuren, gleiche Klamotten, kein Song über drei Minuten. "One, two, three, four", zählt der Bassist an. Sie rocken das CBGB's, sie rocken das New Yorker Publikum. Drei Betrunkene, den Barkeeper und einen Hund. Selbst die sind hier mehr Kunst gewohnt, weniger Krach. Dass Krach Kunst ist, verstehen sie schnell. Es geht um Geschwindigkeit, um Freiheit, um das Leben. Keine Zeit für viele Gedanken oder schlechte Stimmung. Popmusik, aber lauter. Auch das gehört zum Konzept. One, two, three, four.

16. August 1975: Er mag es nicht, vor ausgewähltem Publikum zu spielen. Lieber singt er für die einfachen Menschen da draußen, deren Geschichten er in seinen Liedern erzählt. Aber ihr neues Album steht an, und die Plattenfirma will die Songs vorstellen. Also ist das Bottom Line in New York eben der Ort, wo sie beweisen, was sie können. Dass er und die Jungs längst eine gut geölte Maschine sind, geschmiedet auf den Bühnen im ganzen Land. Einer der Zuschauer macht sich Notizen. "Ich habe die Zukunft des Rock'n'Roll gesehen", steht da.

26. März 1985: Endlich auf die Bühne. Raus aus dem vergammelten Proberaum, der eigentlich ihr Wohnzimmer war. Er stöpselt seine Gitarre ein und legt los. Vor ihm krächzt der Sänger die ersten Zeilen ins Mikro, neben ihm starren der Bassist und der andere Gitarrist verbissen auf ihre Instrumente. Der Drummer, da ist er sicher, konzentriert sich lieber auf den Sitz seiner Frisur. Die Songs sind gut, das weiß er genau. Und er weiß auch, dass er sie irgendwann in riesigen Stadien spielen wird, für ein riesiges Publikum und mit riesigem Sound. Er blickt nach vorne zum Publikum. Dort stehen zwei Leute.

13. Juli 1985: Gott sei auf der Suche gewesen nach einem, der etwas gegen den Hunger in der Welt unternimmt, schreibt er später in seiner Autobiografie. Doch er habe sich vertan und an der falschen Tür geklingelt - ein gammeliger Ire machte auf. "Egal", habe Gott gedacht, "der tut's auch." Und das stimmt: Er tut etwas. Er macht, während andere nur reden. Er hat sie alle zusammengetrommelt, die Größten der Rockszene, und gemeinsam singen sie für eine gute Sache. Es ist das größte Festival aller Zeiten, und er hat es fast im Alleingang organisiert. Vielleicht hat Gott sich gar nicht geirrt?

17. August 1991: Jetzt wollen sie auch noch ein Video. Niemals hatte er vor, einen verdammten Hit zu schreiben. Seine Angst und seine Wut sollten vertont werden, die mussten raus. Mal laut, mal leise, beides im gleichen Song. Mehr nicht. Und plötzlich halten alle ihn für den Retter des Rock. Sein Magen schmerzt schon seit Tagen, wie eigentlich fast immer, seine schlechten Angewohnheiten sind wieder da. Die beiden anderen haben Verständnis für ihn, sind jedoch nicht die Stütze, die er braucht. Auch seine Freundin ist das nicht. Niemand ist das. Er fühlt sich allein. Und singt zynisch darüber, andere zu unterhalten. Er weiß nicht, ob er das noch lange erträgt.

Sieben Streiflichter von tausend möglichen. Um mal ein paar Helden zu danken.

Montag, 11. Dezember 2017

Team Keaton

Wenn mich in den vergangenen Monaten etwas Nicht-Persönliches berührt hat, dann ist das die Geschichte von Keaton Jones. Keaton ist ein kleiner Junge aus Tennessee, und er hat der Welt etwas zu sagen. Deswegen hat er seine Mutter gebeten, ihn mit dem Smartphone zu filmen. Unter Tränen erzählt er davon, wie er immer und immer wieder von anderen Schülern drangsaliert wird, wie sie ihn quälen, sich über sein Aussehen lustig und ihm das Leben zur Hölle machen. "Menschen, die anders sind, brauchen deshalb nicht kritisiert zu werden", sagt er unter anderem. "Es ist nicht ihre Schuld."

Ich stelle das Video hier bewusst nicht dazu, weil es wirklich dazu angetan ist, einem das Herz zu brechen - hier ist es zu finden. Innerhalb weniger Tage hat der Junge, der keine Freunde hatte, den größten Freundeskreis der Welt bekommen. Ungezählte Menschen solidarisieren sich mit ihm per Twitter und Facebook, aber sie besuchen ihn auch zu Hause in Tennessee. Unter ihnen sind ein Dutzend prominenter Sportmannschaften, deren bekannteste Spieler, aber auch erfolgreiche Musiker und Schauspieler, unter anderem ungefähr der komplette Cast von "Avengers: Infinity War".

Die gute Nachricht: Keaton kann wieder lachen - und einen Tweet dazu stelle ich gerne hier ein:
Und er ist zum Vorbild, zur Stimme für all jene geworden, denen es so ergeht wie ihm, die in sehr jungen Jahren schmerzhaft lernen, wie grausam die Welt und die Menschen darin sein können. Beeindruckender kleiner Kerl.

Warum mich seine Story so berührt? Weil sie mich an weniger lustige Zeiten erinnert, die ich selbst erlebt habe, als ich in seinem Alter war. Ich spreche darüber nicht besonders gern, habe sogar die Klappe gehalten, wenn andere mutiger waren und ihre entsprechende Geschichte erzählt haben. Vermutlich habe ich diese Erfahrungen auch ein bisschen verdrängt. Nun wurde ich dieses Jahr zum dritten Mal daran erinnert und kann bestätigen, dass es irgendwann besser wird. Der Schlüssel ist Selbstbewusstsein (und zwar im Wortsinn, aber auch in der klassischen Bedeutung).

Jeder Mensch ist etwas wert. Ob er ein Keaton ist oder einem Keaton begegnet - es ist wichtig, sich das ab und zu ins Bewusstsein zu rufen.

(Kleines Update: Natürlich ist dies das Internet, und natürlich hat das Leben immer zwei Seiten. Inzwischen wurden Fotos und Screenshots veröffentlicht, die Keatons Mutter als zumindest sehr reaktionär darstellen. Außerdem hat jemand unter ihrem Namen eine Spendensammlung eröffnet.

Dazu ist zu sagen, dass die Familie abstreitet, etwas mit dem Spendenaufruf zu tun zu haben, und es vergleichsweise einfach ist, sich online als jemand anderes auszugeben. Und zum erstgenannten Vorwurf genügt mir persönlich das Foto im Tweet. Sieht für mich nicht nach Rassismus aus. Zumal wir über einen kleinen Jungen reden, der viel durchgemacht hat, nicht darüber, welche Fehler seine Mutter begangen haben mag. Haters gonna hate. Mehr dazu gibt's hier.

Noch ein kleines Update (und mich ärgert, dass das nötig ist): Mittlerweile erlebt die Familie einen Shitstorm, steht also zwischen zwei Wellen, und das ist sehr unnötig. Grundsätzlich geht es einfach um einen kleinen Jungen, der gemobbt wurde. Wer an Fakten interessiert ist, sollte sich das hier anschauen. Und es ansonsten so halten:
Und so:
Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.)