Donnerstag, 28. Dezember 2017

Herzensangelegenheiten

17. August 1960: Irgendwie ist er unzufrieden. Klar: Sie dürfen heute live auftreten, und das Publikum hier in Hamburg scheint sie zu mögen. Aber sein bester Kumpel ist ihm immer ein bisschen zu gut gelaunt, der andere Gitarrist ein wenig zu ambitioniert, und der Schlagzeuger kommt immer seltener zur Bandprobe. Außerdem fehlt ihm die schlechte Luft von Liverpool. Wer hätte das gedacht? Eines Tages, da ist er sicher, werden sie die größte Band der Welt sein. Größer als Jesus. Eine Revolution starten. Man muss es sich nur vorstellen.

18. Juni 1967: Brian Jones nennt ihn einen Freund und "den aufregendsten Performer, den ich je gehört habe". Die Massen vor der Bühne jubeln, aber sie jubeln praktisch immer. Gras und Liebe überall, sie träumen von einer besseren Zeit. Er will eigentlich nur Musik machen, die Musik in seinem Kopf und seinem Herzen. Er spielt die Gitarre wie niemand zuvor. Sie ist ihm Geliebte und Gegner, Anker in der Not und Brücke nach außen. Er lässt sie singen und schreien und weinen. Dann spielt er einen Song von Bob Dylan und verändert die Welt.

16. August 1974: Ihr Konzept geht auf. Gleiche Frisuren, gleiche Klamotten, kein Song über drei Minuten. "One, two, three, four", zählt der Bassist an. Sie rocken das CBGB's, sie rocken das New Yorker Publikum. Drei Betrunkene, den Barkeeper und einen Hund. Selbst die sind hier mehr Kunst gewohnt, weniger Krach. Dass Krach Kunst ist, verstehen sie schnell. Es geht um Geschwindigkeit, um Freiheit, um das Leben. Keine Zeit für viele Gedanken oder schlechte Stimmung. Popmusik, aber lauter. Auch das gehört zum Konzept. One, two, three, four.

16. August 1975: Er mag es nicht, vor ausgewähltem Publikum zu spielen. Lieber singt er für die einfachen Menschen da draußen, deren Geschichten er in seinen Liedern erzählt. Aber ihr neues Album steht an, und die Plattenfirma will die Songs vorstellen. Also ist das Bottom Line in New York eben der Ort, wo sie beweisen, was sie können. Dass er und die Jungs längst eine gut geölte Maschine sind, geschmiedet auf den Bühnen im ganzen Land. Einer der Zuschauer macht sich Notizen. "Ich habe die Zukunft des Rock'n'Roll gesehen", steht da.

26. März 1985: Endlich auf die Bühne. Raus aus dem vergammelten Proberaum, der eigentlich ihr Wohnzimmer war. Er stöpselt seine Gitarre ein und legt los. Vor ihm krächzt der Sänger die ersten Zeilen ins Mikro, neben ihm starren der Bassist und der andere Gitarrist verbissen auf ihre Instrumente. Der Drummer, da ist er sicher, konzentriert sich lieber auf den Sitz seiner Frisur. Die Songs sind gut, das weiß er genau. Und er weiß auch, dass er sie irgendwann in riesigen Stadien spielen wird, für ein riesiges Publikum und mit riesigem Sound. Er blickt nach vorne zum Publikum. Dort stehen zwei Leute.

13. Juli 1985: Gott sei auf der Suche gewesen nach einem, der etwas gegen den Hunger in der Welt unternimmt, schreibt er später in seiner Autobiografie. Doch er habe sich vertan und an der falschen Tür geklingelt - ein gammeliger Ire machte auf. "Egal", habe Gott gedacht, "der tut's auch." Und das stimmt: Er tut etwas. Er macht, während andere nur reden. Er hat sie alle zusammengetrommelt, die Größten der Rockszene, und gemeinsam singen sie für eine gute Sache. Es ist das größte Festival aller Zeiten, und er hat es fast im Alleingang organisiert. Vielleicht hat Gott sich gar nicht geirrt?

17. August 1991: Jetzt wollen sie auch noch ein Video. Niemals hatte er vor, einen verdammten Hit zu schreiben. Seine Angst und seine Wut sollten vertont werden, die mussten raus. Mal laut, mal leise, beides im gleichen Song. Mehr nicht. Und plötzlich halten alle ihn für den Retter des Rock. Sein Magen schmerzt schon seit Tagen, wie eigentlich fast immer, seine schlechten Angewohnheiten sind wieder da. Die beiden anderen haben Verständnis für ihn, sind jedoch nicht die Stütze, die er braucht. Auch seine Freundin ist das nicht. Niemand ist das. Er fühlt sich allein. Und singt zynisch darüber, andere zu unterhalten. Er weiß nicht, ob er das noch lange erträgt.

Sieben Streiflichter von tausend möglichen. Um mal ein paar Helden zu danken.

Montag, 11. Dezember 2017

Team Keaton

Wenn mich in den vergangenen Monaten etwas Nicht-Persönliches berührt hat, dann ist das die Geschichte von Keaton Jones. Keaton ist ein kleiner Junge aus Tennessee, und er hat der Welt etwas zu sagen. Deswegen hat er seine Mutter gebeten, ihn mit dem Smartphone zu filmen. Unter Tränen erzählt er davon, wie er immer und immer wieder von anderen Schülern drangsaliert wird, wie sie ihn quälen, sich über sein Aussehen lustig und ihm das Leben zur Hölle machen. "Menschen, die anders sind, brauchen deshalb nicht kritisiert zu werden", sagt er unter anderem. "Es ist nicht ihre Schuld."

Ich stelle das Video hier bewusst nicht dazu, weil es wirklich dazu angetan ist, einem das Herz zu brechen - hier ist es zu finden. Innerhalb weniger Tage hat der Junge, der keine Freunde hatte, den größten Freundeskreis der Welt bekommen. Ungezählte Menschen solidarisieren sich mit ihm per Twitter und Facebook, aber sie besuchen ihn auch zu Hause in Tennessee. Unter ihnen sind ein Dutzend prominenter Sportmannschaften, deren bekannteste Spieler, aber auch erfolgreiche Musiker und Schauspieler, unter anderem ungefähr der komplette Cast von "Avengers: Infinity War".

Die gute Nachricht: Keaton kann wieder lachen - und einen Tweet dazu stelle ich gerne hier ein:
Und er ist zum Vorbild, zur Stimme für all jene geworden, denen es so ergeht wie ihm, die in sehr jungen Jahren schmerzhaft lernen, wie grausam die Welt und die Menschen darin sein können. Beeindruckender kleiner Kerl.

Warum mich seine Story so berührt? Weil sie mich an weniger lustige Zeiten erinnert, die ich selbst erlebt habe, als ich in seinem Alter war. Ich spreche darüber nicht besonders gern, habe sogar die Klappe gehalten, wenn andere mutiger waren und ihre entsprechende Geschichte erzählt haben. Vermutlich habe ich diese Erfahrungen auch ein bisschen verdrängt. Nun wurde ich dieses Jahr zum dritten Mal daran erinnert und kann bestätigen, dass es irgendwann besser wird. Der Schlüssel ist Selbstbewusstsein (und zwar im Wortsinn, aber auch in der klassischen Bedeutung).

Jeder Mensch ist etwas wert. Ob er ein Keaton ist oder einem Keaton begegnet - es ist wichtig, sich das ab und zu ins Bewusstsein zu rufen.

(Kleines Update: Natürlich ist dies das Internet, und natürlich hat das Leben immer zwei Seiten. Inzwischen wurden Fotos und Screenshots veröffentlicht, die Keatons Mutter als zumindest sehr reaktionär darstellen. Außerdem hat jemand unter ihrem Namen eine Spendensammlung eröffnet.

Dazu ist zu sagen, dass die Familie abstreitet, etwas mit dem Spendenaufruf zu tun zu haben, und es vergleichsweise einfach ist, sich online als jemand anderes auszugeben. Und zum erstgenannten Vorwurf genügt mir persönlich das Foto im Tweet. Sieht für mich nicht nach Rassismus aus. Zumal wir über einen kleinen Jungen reden, der viel durchgemacht hat, nicht darüber, welche Fehler seine Mutter begangen haben mag. Haters gonna hate. Mehr dazu gibt's hier.

Noch ein kleines Update (und mich ärgert, dass das nötig ist): Mittlerweile erlebt die Familie einen Shitstorm, steht also zwischen zwei Wellen, und das ist sehr unnötig. Grundsätzlich geht es einfach um einen kleinen Jungen, der gemobbt wurde. Wer an Fakten interessiert ist, sollte sich das hier anschauen. Und es ansonsten so halten:
Und so:
Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.)

Montag, 20. November 2017

An der Kasse

Abenteuer Lebensmittelmarkt: Ich habe für vieles Verständnis. Nicht für alles, aber meist versuche ich zumindest, die Handlungen und Sichtweisen meiner Mitmenschen nachzuvollziehen. An der Supermarktkasse gerate ich jedoch mitunter an meine Grenzen.

Ich verstehe beispielsweise das Konzept des Warentrenners nicht, wenn zwischen den einzelnen Warenstapeln mehrere Meter Abstand herrschen und es also faktisch nichts zu trennen gibt. Aber auch das aggressive Verhalten einiger Kunden kurz vor der Kasse kann ich nicht recht nachvollziehen. Wieviele Minuten Zeitersparnis bringt es ihnen, in der Schlange etwas weiter vorne zu stehen? Und warum zur Hölle haben sie alle Zeit der Welt, sobald sie an der Reihe sind - sprich: es ans Bezahlen geht?

Kürzlich stand ich armes Würstchen mit einem ebensolchen und einem Joghurt in Händen leicht irritiert hinter einer älteren Dame, die mich zuvor mit giftigem Blick und spitzen Ellbogen beiseite gedrängt hatte. Zu ihren Einkäufen - die sie selbstverständlich mit mindestens einem Warentrenner von meinen Waren trennte - gehörte unter anderem eine kleine Packung Schokoherzen. Schlagartig sehr entspannt fragte sie die Kassiererin, ob jene wie im Werbeprospekt versprochen 79 Cent kosteten oder man die ausgepreisten 89 Cent bezahlen müsse. Nicht jeder hat das Geld locker sitzen, das ist mir bewusst. Der Mantel mit Echtpelz am Kragen brachte mich zwar auf den Gedanken, dass die Dame vermutlich keine finanziellen Sorgen habe, aber sei's drum. (Er machte sie übrigens auch nicht sympathischer.) Die Kassiererin gab alles, um den tatsächlichen Wert besagter Herzen herauszufinden. Unter anderem führte sie ein längeres Telefonat mit jemandem namens "Duanne", was man übrigens nicht "Dwayne", sondern "Du, Anne" ausspricht. Sie beendete das Gespräch mit einigen guten Wünschen für ihre Kollegin, aber ohne ein Ergebnis, das zur Beantwortung der Frage der Seniorin beigetragen hätte.

Diese reagiert unwirsch, verzichtete aber sicherheitshalber auf den Kauf der Schokoherzen. Bis Weihnachten ist es ja auch noch ein wenig hin. Als nächstes wurde sie von der Kassiererin darüber aufgeklärt, dass man als Kunde die Plastikkörbe, die im Markt bereitstehen, nicht unentgeltlich mit nach Hause nehmen dürfe. Dies schien sie zu überraschen; augenscheinlich waren ihr die Preisetiketten an den in der Herstellung vergleichsweise günstigen Papiertüten und Stoffbeuteln entgangen. Nun doch leicht erbost bezahlte sie ihre restlichen (also schokoherzlosen) Einkäufe.

Die Summe belief sich auf sechs Euro und achtundneunzig Cent. Selbstverständlich hatte die gute Frau diesen Betrag passend. Allerdings nicht parat, ohnehin musste sie zunächst - sichtlich überrascht vom plötzlichen Bezahlvorgang - ihre Geldbörse suchen. Dieser entnahm sie schließlich die geforderte Summe in möglichst kleinen Geldstücken. Sie tat das sehr sorgfältig und ohne unnötige Hast - mich zur Seite zu schubsen hatte ihr offenbar tatsächlich einen beachtlichen Zeitvorteil verschafft. Vielleicht musste sie auch im Gegensatz zu mir nicht zurück an ihren Arbeitsplatz. Ältere Damen im Pelz gehen ja oft keiner regelmäßigen Tätigkeit mehr nach, um ihr Auskommen zu sichern.

Kurze Zeit darauf - inzwischen hatte auch ich die Wurst und den Joghurt bezahlt - sah ich die wackere Greisin auf dem Parkplatz des Lebensmittelmarktes wieder. Sie schlug gerade die Fahrertür ihres neuen Mercedes gegen die Beifahrertür meines alten Fiat. Aber ich habe ja für vieles Verständnis.

Dienstag, 14. November 2017

Gude und Moin: Expedition in den Comic-Untergrund

Nachdem ich mich hier über einige meiner liebsten Comics ausgelassen habe, geht es diesmal etwas tiefer in die Materie - besser: in den Untergrund. Die Frage, was Underground-Comics sind, ist so schwer zu beantworten wie die nach Independent-Kino oder Alternative-Musik. Die beiden Beispiele, mit denen ich mich hier beschäftige, sind allerdings definitiv Untergrund, nämlich von Enthusiasten im Kleinen mit viel Liebe geschaffen und veröffentlicht. Sie unterscheiden sich durch drei Jahrzehnte zeitlichen und 360 Kilometer geografischen Abstand. Und um ehrlich zu sein: Sie unterscheiden sich auch sehr in Sachen Qualität.

Es muss so um 1984 herum gewesen sein, als ich zum ersten Mal in Kontakt mit einem Comic-Magazin kam, das nicht im örtlichen Zeitschriftenladen, nicht im einzigen Kiosk der Stadt, nicht auf dem Wühltisch des Supermarktes und nicht mal auf den Flohmärkten der Umgebung erhältlich war. Dort hatte ich in den vergangenen zwei, drei Jahren ungefähr alles eingesammelt, was an Superhelden- oder Horror-Comics zu haben war. Mein Kinderzimmer füllte sich mit bunten Heften, Alben und Taschenbüchern, einiges davon aus einer Zeit, die ich nicht bewusst erlebt habe, anderes aktueller und teils mit fragwürdigen Tricks für Schnäppchenpreise erworben. (Streng genommen nutzte ich die Nachlässigkeit der Kassiererinnen aus. Naja, dürfte inzwischen verjährt sein.) Aber alles, wofür ich mein Taschengeld rausrückte, wurde publiziert von großen Verlagen und war zumindest zum Erscheinungszeitpunkt nicht besonders schwer zu bekommen. Ein elfjähriger Schüler in einer hessischen Kleinstadt der 80er ist nicht gerade der größte Jäger. Dafür ist er notfalls ein begabter und geduldiger Sammler. Mit Kartons voller Comicheften und Schränken voller Taschenbücher und Alben.

Jedenfalls verschlug es mich eines Tages irgendwie in einen kleinen Laden in der Gegend, aus der wir gerade weggezogen waren. Das liest sich jetzt eventuell aufregender als es tatsächlich war: Wir reden einfach über eine andere Straße jener kleinen Stadt in Hessen. Jedenfalls: Zwischen unserer früheren Wohnung und dem Lebensmittelgeschäft, in dem man mir noch kurze Zeit zuvor das obligatorische Stückchen Fleischwurst aufgedrängt hatte, lag ein eher spartanisch eingerichtetes Räumchen, in dem ein junger Mann mit lila Halstuch unter anderem Bücher verkaufte. Ich kann heute nur raten, was mich dort reingeführt haben mag - vermutlich die Suche nach weiteren Science-Fiction-Büchern und eben Comics. Letztgenannte führte der Laden tatsächlich. Aber sie waren anders als alles, was ich aus diesem Genre bis dato kannte. Völlig anders.

"Duty Free" nannte sich das Magazin, das dort im Holzregal lag. Offenbar gab es einen Vorgänger namens "Zollfrei" (das entnahm ich den Eigenanzeigen) und einen Vorvorgänger mit dem schönen Namen "Hand und Fuß", dessen einzige Ausgabe man ebenfalls erwerben konnte. Diese bestand aus ein paar zusammengehefteten Schwarz-weiß-Seiten, die mit kaum lustigen Wortspielen und eher unlustigen Cartoons bedruckt waren. Auffallend: die unterschiedlichen Zeichenstile, die von Kritzeleien für den Hausgebrauch bis zu detaillierter Linienführung reichten. Das eigentliche "Duty Free" führte dieses Konzept der Konzeptlosigkeit fort: Farbe fand gleich- und allenfalls auf der Titelseite statt (ziemlich sicher aus Kostengründen), der Inhalt war dennoch ein buntes Sammelsurium von Geschichten. Mich sprach besonders an, dass einige davon durchaus Lokalkolorit versprühten. Das kleine Lädchen führte auch "Werner"-Comics - die kannte ich natürlich, ich mochte sie auch. Aber ich bin eben Hesse, kein Nordlicht. Storys über die Startbahn 18 West waren mir seinerzeit einfach näher als solche über Flaschbier-Konsum an der Waterkant. (Zu diesem Thema später mehr. Aus Gründen.) Grundsätzlich faszinierte mich, dass da jemand mit ähnlich beknackten Ideen, wie mein juveniler Schädel sie ausbrütete, und teilweise mit einem ähnlich überschaubaren Zeichentalent wie meinem - das damals noch zwischen "okay" und "ganz gut" pendelte - den Mumm hatte, aus beidem ein Comic-Magazin zusammenzuzimmern. Und dass es kleine, fast leere Läden gab, die sowas verkauften.

Ich nahm gleich den kompletten Satz - seinerzeit war das durchaus eine beachtliche Ausgabe für mich - und schleppte ihn zufrieden nach Hause. Ein neues Universum öffnete seine Tore. Es war schwarz-weiß, aber nicht farblos, es war durchgeknallt, komplett irre und angenehm anarchistisch. Es machte höllisch Spaß. Es gab eine Welt jenseits der muskelbepackten Helden und grotesken Monster, die ich so liebte. Sie lag sogar jenseits der verfressenen Kater und grummeligen Wikinger, die zumindest ebenfalls in Sachen Humor unterwegs waren. Später wanderten meine "Duty Free"-Exemplare in Klarsichtfolien und Aktenordner. Von einem Holzregal ins nächste, mit dem Umweg über Hirn und Herz eines jungen Comicfans, für den seit jenem Tag im kleinen leeren Laden alles anders ist. Wie das aber so ist mit der Zeit: Ihr steter Fluss bringt Veränderungen mit sich. Aus vielversprechenden Toren in fremde Universen werden verblichene Erinnerungen. Da ist es gut, wenn man manche davon sorgfältig aufbewahrt, eben nicht nur im Kleinhirn, sondern durchaus buchstäblich. Blätternde Zeitreisen sind zum Greifen nah - und dann und wann werfe ich tatsächlich noch einen Blick in das Schaffen jener nach wie vor unbekannten Kleinkünstler.

Dabei fällt auf, dass Klarsichtfolien zwar dem Zahn der Zeit trotzen, ihr Inhalt dies jedoch mitunter nicht ganz unbeschadet schafft. Was damals aufregend war, wirkt heute eher betulich. Was früher neu und modern daherkam, wirkt inzwischen zurecht retro. "Duty Free" ist ein Kind seiner Zeit, ist vor allem in Sachen Layout und Schrifttypen so sehr 80er wie die Magazine jener Ära. Der dreckige kleine Bruder von "Wiener" und "Prinz", die Comic-"Bravo" für den kleinen Anarcho, das Gegenstück zu Massenprodukten, denen wir heute nostalgisch nachtrauern - klar macht es Spaß, in Erinnerungen zu schwelgen, den Machern dürfte manches jedoch inzwischen peinlich sein. Jugendsünden sind das, auch für mich als Sammler, aber missen möchte ich sie auf keinen Fall. Wer weiß, vielleicht wäre ich ohne den seltsamen Laden mit seinem noch seltsameren Hüter nie auf den Gedanken gekommen, auch mal über den Tellerrand zu gucken und dort Abseitiges zu entdecken. Und das wäre sehr schade gewesen - sogar ein Verlust. Wer sich selbst mal einen Eindruck davon verschaffen will, was damals in der Rhein-Main-Szene grassierte, muss schon einiges an Geschick und Hartnäckigkeit aufwenden. Wie das eben so ist mit dem Untergrund, auch und gerade in Sachen Comics - die Suche danach ist ein kleines Abenteuer.

Oder nicht? Die Zeiten haben sich geändert - das gilt glücklicherweise auch für Vertriebswege. Wer heute mal antesten will, was an unabhängigen Produkten in der bundesrepublikanischen Welt der bunten Bilder kursiert, hat es vergleichsweise einfach. Das eingangs skizzierte Tor nach draußen (beziehungsweise unten) ist nämlich nur noch einen Mausklick entfernt. Vor kurzem stieß ich beispielsweise auf einen kleinen Verlag in Vögelsen bei Lüneburg: Er trägt den sehr passenden Namen Der Buddelfisch und hat sich Geschichten verschrieben, die gleichfalls im Norden zu Hause sind. Begeistert schrieb ich seinerzeit meinem Facebook-Publikum den folgenden Tipp: "Moin! Ihr mögt Wind und Wellen, Norddeutschland und Friesenkrimis, aber auch Comics und Geistergeschichten (also quasi wie ich)? Dann schaut euch mal die Storys an, die Der Buddelfisch online zum Lesen anbietet. Da gehen der olle Klaus Störtebeker und der Klabautermann um, und wortkarge Waterkant-Gesellen fackeln nicht lange, sondern höchstens ab... (Und das alles übrigens so legal wie gratis.) Auch nach Halloween noch einen Klick wert."

Dem ist zumindest inhaltlich kaum etwas hinzuzufügen. Tatsächlich kann man hier einiges aus dem sehr empfehlenswerten Programm des Kleinverlags online lesen. Viel, viel besser ist es allerdings, sich die Comics als tatsächliche Hefte nach Hause zu holen. Zum einen unterstützt man dadurch eine muntere Truppe Enthusiasten, die vor allem einen monetären Griff unter die Arme vermutlich durchaus gebrauchen können. Zum anderen ist man dann der Besitzer von wirklich großartig gemachten, sehr hochwertig gedruckten Comics von der Küste - ich gehe sogar soweit, zu behaupten, eben diese gehören in jeden guten Haushalt. (Bonus-Tipp für Ungeduldige: Wenn man zwei Tage nach der Überweisung per Mail rumnörgelt, dass die Ware noch immer nicht vorliege, wird daraus ein sehr freundlicher Dialog mit Herausgeber Sebastian Kempke, der darüberhinaus jedes Exemplar signiert. Dies tut er allerdings auch, wenn man nicht ungeduldig nervt.)

Flaggschiff im Programm der Buddelfischer ist die Serie "Sturmboje". "Jan Storm und Kris Kundrisson gehen einer eher ungewöhnlichen Beschäftigung nach", heißt es dazu im Online-Auftritt des Verlags. "Ob tief in den Eingeweiden verstaubter Spukhäuser, auf den peitschenden Wellen der Nordsee oder mitten unter uns, in den Städten und Dörfern, die beiden sind dem Unheimlichen auf der Spur." Umgesetzt sind die humorvollen Gruselgeschichten als Mischung aus funny-infizierten Abenteuer-Comics, wie sie oft aus dem franko-belgischen Raum stammen, und bewusster Hommage an die verqueren Storys klassischer Groschenromane à la "John Sinclair". Dank sorgfältiger Erzählweise und eines flotten Zeichenstils ist das Ergebnis atmosphärisch dicht und atmet in jedem Panel die salzige Seeluft seiner Handlungsorte. Weiter oben habe ich behauptet, norddeutsche Geschichten seien mir geografisch ferner als jene aus meiner hessischen Heimat - emotional sind sie es nicht. Wer sämtliche Urlaube seiner Kindheit und auch noch ein paar danach an der Nordsee verbracht hat, bleibt offenbar ein Friesenjung im Geiste.

Zusätzlich zu drei wirklich sehr lesenswerten "Sturmboje"-Comics habe ich noch den Band "Grundkurs Mord" geordert. Vanessa Drossel und Mareike Hansen haben damit einen Comic-Krimi geschaffen, der vor allem "Tatort"-Gucker wie mich ansprechen dürfte. Der Fall der Kieler Polizisten Tanja Sievers und Christian Henning erinnert im Aufbau, aber auch in Sachen Spannung an die besten Folgen der Fernsehreihe. Viel Wortwitz in den Dialogen, durchaus brutale Verbrechen und natürlich das kaputte Privatleben der beiden Ermittler sorgen dafür, dass man sich rasch zu Hause fühlt - und das nicht nur am Sonntagabend. Wenn Ihr also gerade dabei seid, euch die absurd-unterhaltsamen Spukgeschichten zu bestellen, klickt euch diesen realistischen Krimi gleich noch dazu. Es lohnt sich - versprochen. (Das gilt übrigens auch für ein Like auf der Facebook-Seite des Verlags und ein wenig Stöbern in dessen restlichem Angebot.)

30 Jahre nach meinen ersten zaghaften Schritten in den Comic-Untergrund der Republik ist dieser also lebendiger denn je. Und statt mit "Gude" grüßt er heute mit "Moin".

Donnerstag, 2. November 2017

Herzensangelegenheiten

Ungewöhnliche Liebeserklärung: Mein USB-Stick spuckt aktuell eines meiner ewigen Inselalben aus - das 1987 erschienene Debüt einer Band, die es damit aus der Gosse ihrer vermeintlich paradiesischen Großstadt in die Arenen der Welt geschafft hat. Verwurzelt im sleazigen Hardrock der damaligen Ära, aber angeschoben durch die Wut des Punk und geerdet im rudimentären Blues, dazu jeder Song ein Hit und schon das später indizierte Cover der erste Skandal - wer Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen will, sollte das mit einem derart lauten Krachen tun.

Der Sänger war ein arrogantes Arschloch, und er war das so bewusst, wie es ihm sein Hang zu verbotenen Substanzen möglich machte. Vom Kopftuch bis zur Spandexhose pure Überheblichkeit und Unberechenbarkeit, dazu gesegnet mit einem verrotzten Organ, das klang, als habe der versoffene kleine Bruder von Dan McCafferty eine doppelte Portion Reißnägel geschnupft. An seiner Seite sein damals noch bester Kumpel, die röhrende Raubtier-Klampfe vor dem Sixpack, darüber ragte die Fluppe aus dem Haarchaos unter dem Knautschzylinder. Der Bassist war ein gelangweilter Schlaks, eigentlich zu clever für diesen verrotteten Haufen und durchaus mit musikalischen Ambitionen gestraft. (Seine Heimatstadt sollte wenige Jahre später zum neuen Rock-Mekka werden. Aber das ahnte damals noch niemand.) Der Drummer war gerade gut genug für seinen Job, lebte das Motto "more cowbell" und benutzte als einziges Bandmitglied jenes Produkt, dem der Hairspray-Hardrock ihrer Zeitgenossen seinen Namen verdankte. Der Coolste aber war der Rhythmusgitarrist, nicht nur der Physiognomie nach ein Bastard des ollen Keith. Seine furztrockenen Riffs hielten die wilde Jagd zusammen, auf der Bühne war er der Ruhepol in der tobenden Meute.

Es folgten Schlagzeilen und Legenden, die Wiederveröffentlichung ihres halb akustisch, halb live eingespielten Demos, ein überproduziertes Zwillingswerk (das kein Doppelalbum war), eine hingeschluderte Hommage an ihre musikalischen Helden und eine äonenlange Pause vor dem kaum noch erwarteten Comeback. Der Sänger latschte aufgedunsen vor einem Trupp angeheuerter Studiomucker herum, die zu Unrecht den respektablen Bandnamen trugen... Erst vor kurzem dann der Friedensvertrag, eine Wiedervereinigung von immerhin drei Fünfteln der Urbesetzung. Die alte Magie ist natürlich dahin, Abstinenz und Harmonie zum Trotz - denn Wiedergänger sind nun mal lebende Tote.

Aber für ein paar Jahre waren diese verkommenen Straßenköter die gottverdammt scheißgrößte Rockband des Planeten.

Donnerstag, 19. Oktober 2017

Am Ende

Die Insekten sterben. Diese Nachricht geht seit einigen Tagen durchs Netz, aber so richtig interessiert sie niemanden. Mich erinnert das an einen Text, von dem meine Cousine mir vor etlichen Jahren erzählte. Inzwischen weiß ich, dass er vom Schweizer Kabarettisten Franz Hohler stammt. Ich habe natürlich keinerlei Rechte daran, veröffentliche ihn aber hier als eine Art Gastbeitrag. Aus gegebenem Anlass.


Franz Hohler: Der Weltuntergang

Der Weltuntergang
meine Damen und Herren
wird nach dem, was man heute so weiß
etwa folgendermaßen vor sich geh'n:

Am Anfang wird auf einer ziemlich kleinen Insel
im südlichen Pazifik
ein Käfer verschwinden
ein unangenehmer und
alle werden sagen
Gott sei Dank ist dieser Käfer endlich weg
dieses widerliche Jucken, das er brachte
und er war immer voller Dreck.

Wenig später werden die Bewohner dieser Insel merken
dass am Morgen früh
wenn die Vögel singen
eine Stimme fehlt
eine hohe, eher schrille
wie das Zirpen einer Grille
die Stimme jenes Vogels, dessen Nahrung, es ist klar
der kleine, dreckige Käfer war.

Wenig später werden die Fischer dieser Insel bemerken
dass in ihren Netzen
eine Sorte fehlt
jene kleine, aber ganz besonders zarte, die -
hier muss ich unterbrechen und erwähnen
dass der Vogel mit der eher schrillen Stimme
die Gewohnheit hat oder gehabt haben wird
in einer langen Schlaufe auf das Meer hinaus zu kehren
und während dieses Fluges seinen Kot zu entleeren
und für die kleine, aber ganz besonders zarte Sorte Fisch war dieser Kot
das tägliche Brot.

Wenig später werden die Bewohner des Kontinents
in dessen Nähe die ziemlich kleine Insel im Pazifik liegt, bemerken,
dass sich überall
an den Bäumen, auf den Gräsern, an den Klinken ihrer Türen
auf dem Essen, an den Kleidern, auf der Haut und in den Haaren
winzige schwarze Insekten versammeln
die sie niemals gesehen
und sie werden's nicht verstehen
denn sie können ja nicht wissen
dass die kleine, aber ganz besonders zarte Sorte Fisch
die Nahrung eines größern, gar nicht zarten Fisches war
welcher seinerseits nun einfach eine andre Sorte jagte
einen kleinen, gelben Stichling vom selben Maß
der vor allem diese schwarzen Insekten fraß.

Wenig später werden die Bewohner Europas
also wir
merken, dass die Eierpreise steigen
und zwar gewaltig
und die Hühnerfarmbesitzer werden sagen
dass der Mais
aus dem ein Großteil des Futters für die Hühner besteht
vom Kontinent in dessen Nähe die ziemlich kleine Insel im Pazifik liegt
plötzlich nicht mehr zu kriegen sei
wegen irgendeiner Plage von Insekten
die man mit Giften erfolgreich abgefangen
nur leider sei dabei auch der Mais draufgegangen.

Wenig später
jetzt geht es immer schneller
kommt überhaupt kein Huhn mehr auf den Teller.
Auf der Suche nach Ersatz für den Mais im Hühnerfutter
hat man den Anteil an Fischmehl verdoppelt
doch jeder Fisch hat heutzutage halt
seinen ganz bestimmten Quecksilbergehalt
bis jetzt war er tief genug, um niemand zu verderben
doch nun geht's an ein weltweites Hühnersterben.

Wenig später
werden die Bewohner jener ziemlich kleinen Insel im südlichen Pazifik
erschreckt vom Ufer in die Häuser rennen
weil sie das, was sie gesehen haben, absolut nicht kennen.
Die Flut hat heute
und dazu muss man bemerken
der Himmel war blau und Wind gab es keinen
und der Wellengang war niedrig wie stets bei schönem Wetter
und trotzdem lagen heute Nachmittag
die Ufer der Insel unter Wasser
und natürlich wusste niemand
dass am selben Tag auf der ganzen Welt
die Leute von den Ufern in die Häuser rannten
und die Steigung des Meeres beim Namen nannten.

Wenig später
werden die Bewohner jener ziemlich kleinen Insel im südlichen Pazifik
von den Dächern ihrer Häuser in die Fischerboote steigen
um in Richtung jenes Kontinents zu fahren
wo seinerzeit die Sache mit dem Mais passierte.
Doch auch dort ist das Meer schon meterhoch gestiegen
und die Städte an der Küste und die Häfen, die liegen
schon tief unter Wasser
denn die Sache ist die
man musste das gesamte Federvieh
also sechs Milliarden Stück
vergiftet wie es war
verbrennen
und der Kohlenstaub, der davon entstand
gab der Atmosphäre
durch Wärme und Verbrennung schon bis anhin strapaziert
den Rest.

Sie ließ das Sonnenlicht wie bisher herein
ABER NICHT MEHR HINAUS
wodurch sich die Luft dermaßen erwärmte
dass das Eis an den Polen zu schmelzen begann
die Kälte kam zum Erliegen
und die Meere stiegen.
Wenig später werden die Leute
die mittlerweile in die Berge flohen
hinter den Gipfeln
weit am Horizont
ein seltsam fahles Licht erblicken
und sie wissen nicht, was sie denken sollen
denn man hört dazu ein leises Grollen
und wenn einer der Ältern jetzt vermutet
dass nun der Kampf der Großen beginnt
um den letzten verbleibenden Raum für ihre Völker
da fragt ein andrer voller Bitterkeit
wie um Himmels willen kam es soweit?

Tja, meine Damen und Herren
das Meer ist gestiegen, weil die Luft sich erwärmte
die Luft hat sich erwärmt, weil die Hühner verbrannten
die Hühner verbrannten, weil sie Quecksilber hatten
Quecksilber hatten sie, weil Fisch gefüttert wurde
Fisch hat man gefüttert, weil der Mais nicht mehr kam
der Mais kam nicht mehr, weil man Gift benutzte
das Gift musste her, weil die Insekten kamen
die Insekten kamen, weil ein Fisch sie nicht mehr fraß
der Fisch fraß sie nicht, weil er gefressen wurde
gefressen wurde er, weil ein anderer krepierte
der andere krepierte, weil ein Vogel nicht mehr flog
der Vogel flog nicht mehr, weil ein Käfer verschwand
dieser dreckige Käfer, der am Anfang stand.

Bleibt die Frage
stellen Sie sie unumwunden
warum ist denn dieser Käfer verschwunden?
Das, meine Damen und Herren
ist leider noch nicht richtig geklärt
ich glaube aber fast, er hat sich falsch ernährt.
Statt Gräser zu fressen, fraß er Gräser mit Öl
statt Blätter zu fressen, fraß er Blätter mit Ruß
statt Wasser zu trinken, trank er Wasser mit Schwefel
so treibt man auf die Dauer an sich selber eben Frevel.
Bliebe noch die Frage
ich stell' mich schon drauf ein
wann wird das sein?

Da kratzen sich die Wissenschaftler meistens in den Haaren
sie sagen in zehn, in zwanzig Jahren
in fünfzig vielleicht oder auch erst in hundert
ich selber habe mich anders besonnen
ich bin sicher
der Weltuntergang, meine Damen und Herren
hat
schon
begonnen.


Franz Hohler - Der Weltuntergang from ECO123 on Vimeo.

Donnerstag, 12. Oktober 2017

Zweite kuriose Geschichte des Tages

Wenn du spät nach Hause kommst, den Hausschlüssel ins Schloss steckst, ihn umdrehst... und nichts passiert, dann hast du ein Problem. Dann weißt du endgültig: Dieser Tag wird auch auf den letzten Metern nicht dein Freund.

Da ist es gut, wenn man den richtigen Spezialisten für solche Notfälle anruft. Sein Name: Marx, Frank Marx. Und er ist ungefähr der arschcoolste Typ unter der Sonne (die zu diesem Zeitpunkt allerdings längst untergegangen war). Als Jesus seinerzeit Probleme damit hatte, die Steinkugel wegzurollen, hat er IHN gerufen. Wenn sie irgendwann das Bernsteinzimmer finden, und es ist von innen abgeschlossen, werden sie IHN holen. Denn für diesen Kerl stellen Türen keine Hindernisse dar. Nicht mal Herausforderungen. Sie sind bestenfalls Training.

Die Fluppe im Mundwinkel, den Werkzeugkoffer lässig schlenkernd, anderthalb Meter totale Kompetenz - so stapfte er im Halbdunkel heran. Nun gibt es ja zwei Sorten Haudegen: Es gibt die wortkargen, eher mürrischen Typen, die nur dann und wann ein verächtliches Schimpfwort zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorknurren. Und es gibt Frank Marx. Oder anders: Er redet gern. Und viel. Und oft. Eigentlich andauernd. Wie die meisten großen Helden hat er einen Erkennungssatz - eine so genannte Catchphrase -, um sich von seinen Mitbewerbern zu unterscheiden. In seinem Fall lautet sie: "Ich will Ihnen das nur kurz erklären." Ja, das wollte er. Das tat er auch. Wortreich, durchaus eloquent, aber glücklicherweise vor allem parallel zu seiner Arbeit. Denn sein eigentliches Ziel neben einer gewissen didaktischen Verantwortung für den Kunden (der übrigens dringend pinkeln musste) war das Öffnen des offensichtlich kaputten Schlosses.

Zum Einsatz kamen zwei verschiedene Diamantaufsätze für den Schlagbohrer, der Schlagbohrer, ein uralter Schraubenzieher, ein noch älterer Hammer, zwei Zigaretten in einer halben Stunde, eine ins wirre Grauhaar geschobene Sonnenbrille (nochmal: es war bereits dunkel) und im späteren Verlauf eine Flasche WD40 aus meinem eigenen Besitz. Ich verfüge nun über ein neues Türschloss, "das Beste auf dem Markt", quasi unzerstörbar, findet auch in Atomkraftwerken Verwendung, der Hausmeister von Fort Knox würde bei diesem Anblick neidvoll in Tränen ausbrechen... Ihr habt ein Bild.

Gekostet hat mich das Ganze genau *hust* Euro. Ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass der Beste unter den 24-Stunden-Schlüsseldienstleistern dafür gesorgt hat, dass aus meiner Hütte das dörfliche Äquivalent zu Abrahams Schoss geworden ist. Kein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass es viel Geld ist. Aber der Meister heißt offenbar nur zufällig Marx.

Kuriose Geschichte des Tages

Kuriose Geschichte des Tages: Ich habe bei einem privaten Anbieter im Amazon Marketplace einen Comic zum sagenhaften Preis von 1,99 Euro erworben. Leider kam die Bestellung bislang nicht bei mir an. Da ich gerne selbst entscheide, wem ich knapp zwei Euro spende, habe ich Kontakt mit den Verkäufern aufgenommen. Als Reaktion vertröstete das Paar mich auf einen späteren Zeitpunkt - ich wartete also weiter, allerdings nach wie vor vergeblich. Nach einer weiteren Mail und einer negativen Bewertung auf Amazon kam dann gestern die Ankündigung einer Klärung der Situation. Und heute dann erreichte mich die endgültige Antwort, die durchaus charmant ausfiel:

"Sehr geehrter Herr Engelhardt,
erstmal Sorry, es ist dann doch gestern später geworden als wir angenommen hatten.  
Folgendes ist passiert:
Unser Neffe bessert seine finanzielle Situation immer mal wieder mit kleinen Hilfeleistungen für uns auf. So auch am fraglichen Versandtag Ihrer Sendung. Er sollte einiges an diesem Tag zur Post bringen. Scheinbar hat ihn dann ein unerwartetes Zusammentreffen mit seiner "neuen Flamme"aus dem Konzept gebracht. Die Folge war, dass er diverse Sendungen, darunter auch Ihre, seit diesem Tag in seinem Auto spazieren gefahren hat. Gestern Abend hat er uns dann seinen Fauxpas gestanden. Wir haben jetzt umgepackt und senden das Heft heute als Großbrief , statt als Büchersendung, an Sie raus, so dass es bis morgen bei Ihnen eintreffen sollte. Und diesmal werden wir den Umschlag selbst zur Post bringen.
Wir können uns für die höchst unangenehmen Umstände nur in aller Form bei Ihnen entschuldigen und um Ihr Verständnis bitten."

Gerne angenommen - und Verständnis hab ich auch.

Montag, 25. September 2017

Blaue Boten

Ich denke das selten, aber manchmal denke ich es: Gut, dass der Alte das nicht mehr miterlebt. Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben. In der Zeit vor den Schmerzen und dem Krankenhaus hat er oft geflucht, mehr noch als gewohnt. Einmal im Monat stand er in der Parteizentrale der SPD in Marburg und drohte mit Parteiaustritt. Hartz IV? Brüllende Ungerechtigkeit, auf die man ebenso reagieren muss. Die Politik der ruhigen Hand? Unsinn - die Faust soll auf den Tisch krachen! Dass seine Partei in die Opposition geht, hätte den Alten hingegen gefreut. Endlich wieder klare Kante zeigen. Auf der anderen Seite stehen. Dagegen halten.

Was ihn nicht gefreut hätte, ist der Grund dafür, dass ich fast froh bin, ihn das nicht erleben zu sehen: Mit zwölf Prozent zieht die “rechtspopulistische” AfD in den Bundestag ein. Ich höre ihn noch lautstark schimpfen, wenn das Fernsehen mal wieder Bilder marschierender Nazis zeigte. Ein derartiger Wahlerfolg für deren dackelkrawattentragende Hintermänner hätte ihn komplett ausflippen lassen.
"Wir (haben) das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen." (Alexander Gauland)
Mein Vater war einer dieser Soldaten, und er war auf gar nichts stolz. Nicht darauf, weinend nach seiner eigentlich verhassten Mutter geschrien zu haben, als die ersten Kugeln um ihn herum einschlugen. Nicht darauf, den Rest seines Lebens den Splitter einer Granate im Knie zu haben, als bleibendes Andenken an den Zweiten Weltkrieg. Nicht darauf, im Lazarett als Gefangener der amerikanischen Streitkräfte davon erfahren zu haben, welches Grauen sich in seiner Heimat abspielte. Nicht darauf, die Menschen als “Feinde” bezeichnet zu haben, die ihm das Bein retteten. Nicht auf die Scham, als er nach Hause zurückkehrte, humpelnd, gebrochen, endlich erwachsen. Ein anderer Mensch.
"Ich will, dass Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit hat. Ich will, dass Deutschland auch eine tausendjährige Zukunft hat." (Björn Höcke)
In den knapp 80 Jahren seines Lebens hat mein Vater viel erlebt. Viele Jobs gehabt (von Werftarbeiter bis Eisverkäufer), viel gesehen, viele Fehler gemacht, viel dazu gelernt. Aber die tausend Jahre, die nur zwölf waren, gehörten auch in seinem Dasein zu den dunklen Flecken. Man versucht, sie zu vergessen, nicht daran zu denken. Und wenn die kahlgeschorenen Hohlschädel, schlimmer noch: die eloquenten Brüllaffen auftraten, ballte er die Faust in der Tasche. Die Faust, die auf den Tisch krachen sollte (was sie häufig auch tat), die Faust, die ihm oft Ärger eingebracht hat. “Ick kann det nich verstehn”, sagte er oft. “Det will ma nich in den Schädel, dass die det wiederhaben wolln. Ham die denn jar nischt jelernt?” Es war keine gute Zeit, für niemanden, und es war eben doch alles schlecht, daran hatte mein Vater - der Sozialdemokrat im Wortsinn - keinen Zweifel. So hat er es auch seinen Jungs beigebracht. Beschäftigt euch mit Geschichte, informiert euch, seid dagegen und seid laut, wenn es nötig ist. Für meinen Vater war das oft nötig.
"Zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt." (Frauke Petry)
Krieg ist keine Lösung. Waffen auch nicht. Das hat mich einer gelehrt, der in jungen und auch in späteren Jahren durchaus einen Hang dazu hatte, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Seine Familie buchstäblich zu verteidigen. Auch mal jemanden am Kragen zu packen, wenn es für ihn der richtige Zeitpunkt war. (Und dieser Zeitpunkt war relativ schnell erreicht.) Aber Krieg, also Tod und Vernichtung für so etwas Abstraktes wie Grenzen oder “Völker”, das entsprach nie dem Wesen des Alten. Das war letztlich ungerecht, und Ungerechtigkeit hasste er. Für andere sterben? Völlig sinnlos. Für andere töten? Ein Verbrechen. Klar, dass ich den Dienst an der Waffe verweigerte habe und er mich darin unterstützt hat. Was sind schon Feinde? Menschen, die dir das Bein retten und dir die Wahrheit erzählen?
"Multikulti hat die Aufgabe, die Völker zu homogenisieren und damit religiös und kulturell auszulöschen." (Beatrix von Storch)
Seine letzten Jahre hat mein Vater meist im Krankenhaus verbracht. Das war oft schlimm, meist traurig und nur sehr selten eine Anekdote wert. Einmal berichtete er allerdings davon, dass seine Zimmergenossen nette Kerle seien. “Der eene bekommt imma Besuch von sein Kleenen, der andere von seine janze Familie.” So beschrieb der alte Haudegen die beiden, die mit ihm vorübergehend Unterkunft und eventuell auch Schicksal teilten. Manch anderer hätte vielleicht gesagt: Der eine ist Neger und der andere Türke. Dem Alten war das egal.
"Wenn man den ersten Schuss in die Luft abgibt, wird deutlich, dass wir entschlossen sind." (Marcus Pretzell)
Am Tag danach, nach einem langen, spannenden, traurigen Arbeitssonntag, habe ich Katerstimmung. Der Kopf tut weh, ich bin müde, überall zwickt und zieht es. Und ich bin auf die Füße gefallen. Schon gestern wusste ich, das Resignation keine Antwort ist. Ich habe charakterlich ziemlich viel von meinem Vater geerbt, nicht nur gute Eigenschaften. Aber auf eine davon bin ich ein bisschen stolz: Ich bin ganz schlecht im Aufgeben. War ich schon immer. Wir Demokraten müssen jetzt zusammenhalten. Ob Opposition oder wie auch immer gefärbte Regierung. Ob an der Spitze einer Partei oder ganz hinten in der letzten Reihe. Ob mit Parteibuch oder ohne. Ob auf der Straße, am Stammtisch, im Wohnzimmer, im Hörsaal, im Job oder in der Natur. Lasst uns bunt und laut sein, lasst uns reden, diskutieren, schreien und zuhören. Die werden unser Land nicht verändern. Wir sind nicht deren Volk.
"Wir werden sie jagen." (Alexander Gauland)
Wir werden nicht fliehen.



“Verinnerlicht ist das Gefühl
der Ohnmacht, wo man leben will.
So ausgegrenzt auf Lebenszeit
kocht leicht die Wut aus Bitterkeit.

Abgeschoben an den Rand,
im sogenannten Heimatland,
vergeht im Frust die Toleranz.
Ein andres Spiel beginnt!

Es ist soweit, ich fühle den Sturm,
schwarze Boten einer anderen Zeit,
junges Leben vom Alten bedrängt,
wird tabulos und zu allem bereit,
rituelle und brutale
schwarze Boten einer anderen Zeit.

Keine Lobby, hoffnungslos,
bespitzelt vom Politkoloss,
in solcher Überlebensnot
wird Gewalt der neue Gott.

Denken nur noch im Extrem,
behaupten oder untergehn,
kniend leben angepasst
- aufrecht und gehasst.

Horror ist fast jeder Tag,
es sitzt die Angst fest im Genick,
die Lüge vom "Schlaraffenland",
auch nur ein Taschenspielertrick.

Dem Größenwahn im Rausch der Macht
und ignorantem Herdenvieh
wird Feuer unterm Arsch gemacht,
ein Schock der Angst wie nie.“

Die Skeptiker: Schwarze Boten

Freitag, 22. September 2017

Wo die bunten Bilder wohnen

ZACK! BOOM! CRASH! Meine Begeisterung für Comics hat ihre Wurzeln dort, wo die meisten meiner Begeisterungen ihre Wurzeln haben: in meiner Kindheit. Früh macht große Augen, was ein Nerd werden will - staunend stand ich vor den Regalen voller bunter Hefte, lange bevor ich lesen konnte. (Und ich konnte mit fünf Jahren lesen.) Im Kindergartenalter nötigte ich meine Mutter, mir aus den frisch herbei geplärrten Comics vorzulesen. Tapfer las sie auch die Onomatopoesie vor. Und wenn nicht, machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie offenbar ein Wort vergessen habe. ZOING!

Als ich dann selbst lesen konnte, entdeckte ich die Welt der Bildergeschichten auf eigene Faust. Was da los war! Abenteuer an jeder Ecke! Ich erstürmte mit meinem ewigen Helden Spider-Man die höchsten Wolkenkratzer New Yorks, lachte mit Cubitus immer als Letzter, blieb lange auf wie Batman und freute mich über die Ähnlichkeiten zwischen Hägar dem Schrecklichen und meinem Vater, dem Schrecklicheren. Mit den Comics wurde auch ich erwachsen, manch alte Liebe flackerte ein wenig, ohne zu erlöschen, und mit 19 machte ich einen der größten Fehler meines Lebens: Ich vertickte meine Sammlung für einen halben Apfel und ein faules Ei an einen moralisch und hygienisch fragwürdigen Händler, um von dem Erlös meinen Führerschein zu finanzieren. WROOM!

Später, man wird vermeintlich reifer und glaubt dann und wann, Geld übrig zu haben, habe ich einen Teil der Schätze von einst erneut gekauft. Oft auf Flohmärkten, nie auf Börsen, selten im Netz, aber definitiv immer überteuert. Comics werden nicht alt, die werden wertvoll. Manches juvenile Abenteuer findet sich heute in edlen Sammelbänden wieder, der verranzte Karton von früher ist längst eine sorgsam gepflegte Bibliothek im Regal. Und wenn mal Neues dazukommt, ist das selten naiv-abenteuerlich, dafür durchaus anspruchsvoll. Comics sind Literatur, inzwischen weiß das jeder. KA-BLAMM!

Hier sind sie also, meine Lieblingscomics. Wie bei derartigen Auflistungen gewohnt, fehlt einiges, gibt es hulkfaustgroße Lücken, ist manches allenfalls repräsentativ. Ich habe keinen Wert darauf gelegt, zwingend die Originalausgabe zu erwähnen, denn manchmal war es eben die deutsche Version, die mich beeindruckt und begleitet hat. Ab und an sind es sogar relativ frisch aufgelegte Sammelbände - wer mag, soll eine Chance haben, sich die Geschichte zuzulegen. Ach ja: Die Reihenfolge ist völlig willkürlich. Und ich entschuldige mich hiermit stellvertretend bei Dik Browne, Alex Ross und Todd McFarlane. Los geht's! SWING!

Will Eisner: Der Spirit (Nelson-Verlag, 1977)

Man kann Eisner gar nicht genug preisen: Sein Zeichenstil ist einmalig und prägend zugleich (weil ihm keiner seiner Epigonen jemals das Wasser reichen konnte), aber vor allem ist er ein brillanter Erzähler. Die Geschichten um den maskierten Verbrecherjäger, der sich The Spirit nennt, erschienen zunächst als Fortsetzungen in amerikanischen Zeitungen und sind klare Kinder ihrer Zeit, der 40er und 50er. Denny Colt - ein Kriminalist, der für tot gehalten wird und das ausnutzt, um abseits des Gesetzes zu arbeiten - ist ein Kollege von Charakteren wie dem Phantom oder Mandrake, also ein Pulp-Held, der nicht in simpel geschriebenen Krimi-Stories zu Hause ist, sondern eben im Comic. Anders als seine genannten Mitbewerber erlebt der Spirit allerdings vergleichsweise düstere Abenteuer. Er wird verletzt, blutet, steht wieder und wieder auf - und ab und zu zuckt schwarzer Humor durch das Dunkel der Nacht. Batman ohne Zynismus, gezeichneter Film noir mit Funny-Elementen - Will Eisner hat sich so unsterblich gemacht wie seine Figur. Mein Erstkontakt erfolgte über einen Sammelband, der bei meinem Bruder im Esszimmer rumlag und glücklicherweise den Besitzer wechselte. Ich habe das 68 Seiten starke Album noch immer, es ist nicht besonders wertvoll, aber ein empfehlenswerter Einstieg in die schattige Welt des Spirit. Die beste Geschichte trägt den Titel "Hundstag" und enthält keinerlei Action. Wir sehen den Protagonisten schwer verletzt im Rinnstein liegen, während um ihn herum die kaputte Großstadt ihrem pulsierenden Alltag nachgeht. Ich wiederhole mich gern: große Erzählkunst.

Die Spinne Nr. 31 (Condor-Verlag, 1981)

Der Condor-Verlag war nicht besonders nett zu seinen Helden: In den 70ern hatte Marvel mit Hilfe des Williams-Verlags den deutschen Markt (und mein Kinderzimmer) erobert, vor allem dank einer gewissen Liebe zum Produkt. Wir reden hier über handgeletterte Texte, Leserbriefseiten, sinnvoll editierte Zusammenstellungen von Serien - also eigentlich über Selbstverständlichkeiten. Condor planierte das alles nieder. In den 80ern musste man als Marvel-Fan nicht nur unter anderem die komplett verblödeten Sprechblaseninhalte in stümperhaft zusammengestoppelten Taschenbüchern ertragen, sondern auch hilflos mitansehen, wie Sammelbände auf Wühltischen verramscht wurden. Kunstform? Literatur? Davon wussten die Verantwortlichen im Hause Condor nichts. Immerhin: Sie übernahmen die rührend hilflos übersetzten Namen der Charaktere. Unser freundlicher Netzkopf aus der Nachbarschaft hieß also weiterhin nicht Spider-Man, sondern "Die Spinne". Eines meiner absoluten Lieblingsabenteuer erschien im Original als "Marvel Team-Up" 65 und 66 - und zwar drei Jahre zuvor. Die deutschen Superheldengeschichten hinkten nämlich zeitweise bis zu zehn Jahre der amerikanischen Veröffentlichung hinterher. Oder anders: Die erschreckten Passanten trugen in den 80ern keine Röhrenjeans, sondern noch immer Schlaghosen... Im 31. Heft nach Condor-Zählweise bekommt Peter Parker - seinerzeit Student der Physik - vom Dekan einen Übernachtungsgast aus Europa aufs Auge gedrückt. Dieser entpuppt sich gleichfalls als maskierter Gangsterschreck - und man darf froh sein, dass sein Name nicht mit "Kapitän Großbritannien" übersetzt wurde. Ein Hauch Mystik gibt dem klassischen Gerangel zwischen Hochhäusern einen leichten Fantasy-Touch. Die Zeichnungen vom großen John Byrne sind gewohnt dynamisch. Und ich mag Captain Britains ursprüngliche Darstellung, seine Maske, das Szepter... Seine spätere Reinkarnation habe ich übrigens im bereits erwähnten Esszimmer meines Bruders erstmals gesehen und ins Herz geschlossen. Doch das ist eine andere Geschichte, und sie soll nicht erzählt werden. (Übrigens habe ich kürzlich eine Neuauflage des Originals bei eBay geschossen - inklusive Actionfiguren von Spidey und dem Captain. Ich liebe das Internet.)

Peter Schulz & Michael Ryba: Der Kampf um Flohheim - Band 3: Schindel-Schwinger zwickt die Hexen (1976, Illu Press Edition)

Irgendwie ist dieser Comic damals zwischen meine Kinderbücher geraten, vermutlich wegen der lustigen Knollennasen und der bunten Geschichten. Nur: Die Abenteuer der Einwohner von Flohheim sind eigentlich nichts für Kinder. Als Grundschüler war mir allerdings herzlich egal, dass die Herren Schulz und Ryba fröhlich paffende Hippies im Kampf gegen das System waren - und ihr "Comix" (so nannten sie das selbst) ein Manifest gegen Staat, Kirche und eine rigide Drogenpolitik. Flohheim - so die Story - liegt ziemlich genau zwischen Himmel und Hölle und wird bevölkert von Gottes ersten, nicht immer gelungenen Versuchen, Leben zu erschaffen. So sehen sie aus wie anthropomorphe Kreuzungen verschiedener Tierarten und haben alle eine primäre Eigenschaft. Der Held in dieser wilden Jagd erinnert beispielsweise an ein geschupptes Nilpferd mit Siegfried-Frisur und riesigen Füßen und trägt Boxhandschuhe. Noch Fragen? Das Ganze ist komplett irre und sprach mich seinerzeit offenbar an, ohne dass ich die Metaebene auch nur erahnte. Die kompletten Porträts der Flohheimer prangten an der Tür meines Zimmers - Credo und Gedankenwelt ihrer Erfinder schafften es erst später in den Schädel seines Bewohners. So waren sie, die späten 70er.

Richard & Wendy Pini: Abenteuer in der Elfenwelt Nr. 1 - Als die bösen Gnomen kamen (1984, Bastei)

Wir befinden uns auf einem fremden Planeten, der sich von unserem dadurch unterscheidet, dass zwei Monde um ihn kreisen. Während der Urzeit der Menschen muss ein Raumschiff notlanden - Mannschaft und Passagiere nehmen verschüchtert Kontakt zu den Wilden auf. Diese sehen in den Besuchern aus dem All jedoch böse Ungeheuer und begegnen ihnen mit Angst und Gewalt. Ohne Kontakt zu ihrem Heimatplaneten fliehen die Außerirdischen in den Wald und unterirdische Höhlen. Jahrtausende später haben sich ihre Nachfahren zu jenen Wesen entwickelt, die der Mensch als Elfen und Trolle kennt. Allerdings in eine wehrhafte Variante: Der junge Häuptling Schnitter und sein Stamm verstehen sich nicht nur auf Heilkunst, Handwerk und eine rudimentäre Magie, sondern sind vor allem aggressive Krieger mit Schwert, Speer und Bogen. Um seiner Gruppe das Überleben zu sichern, macht sich Schnitter mit seinen Leuten auf eine gefahrvolle Reise. Ihr Ziel: Sie wollen andere Vertreter ihrer Art treffen. Das ist der Auftakt zu einer grandiosen Fantasy-Story wahrhaft epischen Ausmaßes... die mich im zarten Alter von elf Jahren komplett aus den Schuhen gehauen hat. Mag sein, dass Wendy Pinis Zeichenstil ein bisschen zu sehr an das erinnert, was heute als Manga oder Anime rosa Teenie-Seelen verwirrt. Nur: Damals wussten wir davon nichts. Letztlich sind das spannende Abenteuer, viel näher an Sword & Sorcery, also an Conan, Kull und anderen Barbaren, als am letzten Einhorn oder Tolkien. Hier fliegen durchaus blutig die Fetzen, und wenn es zwischendurch mal poetisch oder romantisch wird, macht das die folgende Kampfszene nur packender. Über die Jahrzehnte ist die Saga immer mehr gewachsen und wurde zunehmend komplexer. Die gute Nachricht: Ihr könnt die "Elfquest" komplett, gratis und legal online lesen - und zwar hier.

Krieger der Geisterwelt - Band 1: Die Stadt der Sieben Dunklen Freuden (Ehapa-Verlag, 1980)

Bleiben wir ein bisschen bei den Elfen: Was im Original den Titel "Warriors Of The Shadow Realm" trägt, wurde bei uns Anfang der 80er als "Krieger der Geisterwelt" veröffentlicht. Ich habe den ersten Band irgendwann in den 90ern bei einem meiner Streifzüge über die damals noch ausgedehnten Flohmärkte der Republik aufgetan. Doug Moenchs Geschichte ist klassische Fantasy, es gibt zwei putzige Elfen, einen schrulligen Zwerg als Comedy-Element, jede Menge Zauberer unterschiedlicher Motivation und ein paar wenig originelle Monster. "Herr der Ringe"? Natürlich. Ein bisschen Gebrüder Grimm? Schon.Was den Comic lesens- oder besser: betrachtenswert macht, sind die schlicht genialen Zeichnungen von John Buscema. Jedes Panel sieht aus wie das Titelbild eines phantastischen Romans oder das Plakat eines ebensolchen Films. Die beiden anderen Bände der Trilogie habe ich mir erst vor kurzem besorgt - man kann sich kaum satt sehen, mag die Story sich noch so flott weglesen. Ich sollte vielleicht wirklich mal wieder öfter auf Flohmärkten nach Schätzen suchen.

Star Wars Classics 1 (Panini, 2008)

Wer mich auch nur ein bisschen kennt, weiß: Ich liebe Star Wars. Mit aller Kraft. Seit meinem fünften Lebensjahr. Ich bin in meiner Liebe relativ kritiklos und kaum diskussionsfähig. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umstand, dass ich mit zwölf Jahren die "Krieg der Sterne"-Comics verschlungen habe, die der Ehapa-Verlag auf den Markt warf. Besonders der erste Band (ursprünglich 1979 erschienen) blieb mir so gut in Erinnerung, dass ich die Neuauflage in der Reihe "Star Wars Classics" einfach haben musste. Jetzt kommt das große Aber: Freunde, diese Storys sind sowas von gar kein bisschen Kanon, dass es kracht! George Lucas war schon immer sehr skrupellos, wenn es darum ging, sein Franchise zu vermarkten. Gut für glühwangige Sammler wie mich, nicht ganz so vorteilhaft für spätere Versuche, das Ganze zu einer stimmigen Gesamtgeschichte zusammenzutackern. Band 1 der "Classics" (und eben auch der alten Albenreihe) spielt nach der Handlung des damals einzigen Kinofilms, also nach "Krieg der Sterne", Episode IV, "A New Hope"... Ihr wisst schon. Wir erleben Han Solo und Chewie dabei, wie sie versuchen, sich bei Jabba freizukaufen. Dafür brauchen sie Kleingeld, darum arbeiten sie wieder in ihrem alten Job als Weltraumganoven. Allerdings geraten sie wie gewohnt dauernd in Schwierigkeiten. Als sie dafür sorgen, dass ein "Borg" (der heißt in der 79er-Version wirklich so) auf einem Friedhof für Humanoide beerdigt wird, bringt das die örtliche Bevölkerung gegen sie auf. Daher nehmen sie das Angebot eines Eingeborenendorfes an, die Siedlung gegen Banditen zu verteidigen. Zu diesem Zweck scharen Solo und sein haariger Kumpel eine Handvoll Abenteurer und Kopfgeldjäger um sich. Na, wem kommt diese Handlung bekannt vor? Richtig - das sind "Die glorreichen Sieben" im All. Zur bunten Truppe gehören unter anderem ein zwei Meter großes grünes Kaninchen (eventuell ein Vorfahr von Marvels Rocket Raccoon) und "der letzte Jedi-Ritter" (kein Witz!), eine Art Don Quichotte. Roy Thomas' Geschichte ist komplett abgedreht, aber sauspannend, die Zeichnungen - unter anderem von Howard Chaykin - ein wenig lieblos, aber in Ordnung. Gehört sicher nicht in jeden guten Haushalt, aber als Kuriosum und Kindheitserinnerung definitiv in mein Regal. Und Han schießt immer zuerst.

Art Spiegelman: Die vollständige Maus (Fischer, 2008)

"Maus" ist "ein Comic von Art Spiegelman, der schwarz-weiß im Stil eines Undergroundcomics die Geschichte seines Vaters, eines Auschwitzüberlebenden, und seiner Mutter erzählt und nebenbei eigene Reaktionen festhält". So steht es in der Wikipedia, die ich an dieser Stelle zitiere, weil es mir schwer fällt, in eigenen Worten zusammenzufassen, was dieses Buch mit seinem Leser macht. Betroffen, traurig, entsetzt, zornig - all das war ich während der Lektüre, und das meiste davon gleichzeitig. Die derzeitigen politischen Entwicklungen in unserem Land machen diesen Comic einmal mehr erschreckend aktuell. Niemals davor oder danach hat jemand Deutschlands dunkelste Jahre so eindringlich in Bilderform geschildert. Ich empfehle euch die etwas ungelenk betitelte Fassung "Die vollständige Maus". Mehr lässt sich fast nicht ertragen. Harte, packende, enorm wichtige Pflichtlektüre. Wider das Vergessen.

John Byrne: Der neue Superman - Handbuch 1: Ein neuer Held entsteht! (Ehapa-Verlag, 1987)

Manchmal mag man das Werk eines Künstlers, kann aber den Menschen dahinter nicht ausstehen. Mir geht das unter anderem mit John Byrne so, der einer meiner absoluten Lieblingszeichner ist. Seine Figuren haben eine völlig eigene Charakteristik, sein Stil ist klar, aber detailliert, fast niemand hat mein Verständnis von Superhelden-Comics so sehr geprägt. Leider ist er ein Arschloch. Ähnlich wie der gleichfalls talentierte und ungleich prominentere Frank Miller gefällt sich Byrne in der Rolle des reaktionären Außenseiters in einer aus seiner Sicht zu liberalen Welt der Kunst. Ich schaffe es, das auszublenden, wenn ich einen Comic von ihm lese. Ich kann ja auch weiterhin "Lethal Weapon" und "Mission: Impossible" gucken. Byrnes Mini-Serie "Man Of Steel" hat Mitte der 80er eine Figur neu aufgestellt, die nie mein absoluter Lieblingsheld war. Superman ist der fliegende Pfadfinder, durch und durch sauber und ehrenhaft, dazu nahezu unbesiegbar - superlangweilig. Aber immerhin ist er der älteste traditionelle Superheld, die Blaupause, der Prototyp; soviel Respekt habe ich ihm immer zugestanden. Die Geschichte vom Mann aus Stahl war seinerzeit das erste Reboot - und wir ahnten ja nicht, dass der Erfolg der Reihe in den folgenden Jahren eine wahre Flut an Neustarts mit sich bringen würde. Mittlerweile starten DC und Marvel ihre sämtlichen Veröffentlichungen ungefähr einmal pro Jahr neu. Um sie den Kinoverfilmungen anzupassen oder dem Zeitgeist oder den sinkenden Verkaufszahlen. "Der neue Superman" - so der deutsche Titel von Byrnes Meisterwerk - ist allerdings auch 30 Jahre später noch eine sehr lesenswerte Geschichte, die einige Logiklücken der Legende schließt und den Übermenschen menschlicher macht. Brachte mich seinerzeit dazu, die folgende Heftserie zu sammeln. Etwa bis zum nächsten Reboot.

Neal Adams & Danny O'Neil: Superman vs. Muhammad Ali (Panini, 2012)

Einer der ungezählten Gründe, warum ich Superman nicht besonders mag: Sämtliche Geschichten sind schon lange auserzählt. Er wurde verändert, getötet, wiedergeboren, gegen alles und jeden in den Ring geschickt. Beim erfolgreichen Versuch, auch wirklich das letzte Quäntchen kreativer Energie aus dem Charakter zu wringen, ließ man ihn sogar auf sein Gegenstück aus dem Konkurrenzverlag treffen - in Deutschland ursprünglich unter dem Titel "Superman gegen Super-Spider", weil die Rechte an Spider-Man eben woanders lagen. Eine Weile kloppte sich Supes also mit Shazam/Captain Marvel, veranstaltete Wettrennen gegen Flash... und ließ letztlich die Fäuste gegen den größten Boxer aller Zeiten sprechen. Muhammad Ali war eines meiner real existierenden Idole - klar, wem ich die Daumen drückte, als mir das Superman-Album in die Hände fiel, in dem diese absurde Story zum ersten Mal abgedruckt wurde. Vor ein paar Jahren habe ich mir die riesige, sehr edel aufgemachte Neufassung aus dem Hause Panini zugelegt. Vor allem das großflächige Bild des Publikums, das aus so ziemlich allen Showgrößen der 70er besteht, lohnt das extreme Format. Ansonsten schafft es Neal Adams natürlich, mit seinen lebendigen Zeichnungen selbst dieser Groteske reichlich Charme zu verleihen. Selbstverständlich ist der Konflikt der beiden Streiter für Freiheit einem Missverständnis geschuldet. Ebenso selbstverständlich kriegen die Verantwortlichen - eine Gruppe außerirdischer Invasoren - später reichlich auf die Nase. Das ist so doof wie unterhaltsam. Und wer der Größte ist, wissen Boxexperten sowieso.

Die Spinne Jubiläums-Comic-Album Nr. 1: Der Kampf der Hexenmeister (Condor-Verlag, 1987)

Zurück zu meinem Freund Spider-Man, ehe wir die Riege der Superhelden eine Weile in Ruhe lassen. Wie erwähnt hat sich der Condor-Verlag mit der Umsetzung der Marvel-Comics nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Doch gibt es Ausnahmen - dieses "Jubiläumsalbum" gehört dazu. Ohnehin waren gerade die größer formatierten Ausgaben jener Ära durchaus ihr Geld wert. Was den "Kampf der Hexenmeister" (Originaltitel übrigens: "Hooky") herausragen lässt, sind die Zeichnungen, ach was: die Gemälde von Bernie Wrightson. Der beste Horror-Grafiker aller Zeiten hat ja kürzlich das Zeitliche gesegnet und eine große Lücke hinterlassen. Detaillierter, wilder und eigenständiger kann man Fieberträume nicht zu Papier bringen. In der vorliegenden Story bekommt es Peter tatsächlich mit Magie in einer fremden Dimension zu tun - reichlich weit draußen für einen mutigen Jungen aus Queens, dessen Berufung es ist, im Großstadtdschungel gegen Bösewichte zu kämpfen. Dennoch schlägt sich der Wandkrabbler tapfer gegen eine wüste Schleimkreatur, die "das Ding aus einer anderen Welt" wie ein Schmusekätzchen wirken lässt. Eine wilde Geschichte, ein irrer Trip, durchgeknallte Bilder - und das in ungewohnt edlem Druck. Ging doch!

Flix: Held (Carlsen-Verlag, 2003)

Es gibt ja wirklich Helden. Sie tragen allerdings keine Masken oder Capes und ihre Unterwäsche glücklicherweise in der Regel nicht sichtbar. "Held wird man nicht erst, Held ist man. An jedem verdammten Tag seines Lebens." So formuliert das Künstler Flix, der mit "Held" nichts weniger als die Geschichte eines Lebens geschrieben und gezeichnet hat. Ein stilles, ein packendes Buch ist das, eventuell das ideale Geschenk für Bildungsbürger ab 30, deren Lächeln im Gespräch mit uns Nerds ein wenig zu falsch und etwas zu arrogant ist. Das ist Kunst. Und trotzdem mitten im Leben, im erwähnten Alltag, in uns allen. Jeder wird sich in den Erlebnissen des Protagonisten wiederfinden - zumindest, wenn sie oder er ehrlich zu sich selbst ist. "Held" ist brüllend komisch, verzweifelt traurig, melancholisch und macht tapfer. Welches Buch kann das schon von sich behaupten? Und wie viele davon sind Comics? Der "Fänger im Roggen" im Cartoon-Stil. Woody Allen als Nachkriegskind. Mitten aus dem Leben, direkt ins Herz - zumindest darin blättern sollte einfach jeder einmal. Um dann zu erkennen, dass er ein "Held" ist, weil er eben keiner ist.

Peter Puck: Rudi - fett & komplett (Egmont Comic Collection, 2015)

Mein Bruder (der mit dem Esszimmer) lebt im Ländle. Dort gibt es Spätzle, Kehrwoche - und in den 80ern gab es einen Comicstrip namens "Rudi", der in Stadtmagazinen erschien. Dadurch wurde auch ich auf ihn aufmerksam. Rudi, der Charakter, ist eine humanoide Ratte und so etwas wie die Yuppie-Version von Brösels Werner. Er schlägt sich durchs Stadtleben, erlebt recht zeitgeistige Abenteuer, die er meist relativ lässig kommentiert, und ist eigentlich der ewige Verlierer. Pech in der Liebe, ständig pleite, das nächste Fettnäpfchen schon in Kopfsprungweite - falls Donald Duck mit irgendjemandem nicht tauschen möchte, ist das Rudi. Oder anders: Der Kerl ist grundsympathisch. Peter Pucks Geschichten sind ein klares Abbild ihrer Zeit. Vor allem die frühen Storys sind so sehr lackiert glänzende 80er wie "Prinz" und "Wiener", Falco und Robert Palmer. Heute ist das "retro", eventuell sogar "Kult", aber für solche Begriffe haben Puck und sein Alter Ego Rudi sicher bestenfalls ein Achselzucken übrig. Zuletzt erschien "Rudi" übrigens im Punk-Fanzine "Ox", und auch das passt wie die Faust auf die Sonnenbrille. Einsteiger, Kenner und überhaupt jeder greift am besten zum wahrlich kompletten und fetten Sammelband "Fett & komplett". Mehr Rudi geht nicht.

Die großen Phantastic-Comics Band 1: Warlord - Der Kämpfer (Ehapa-Verlag, 1980)
Mike W. Barr & Brian Bolland: Camelot 3000 (Panini, 2011)

Comic-Verfilmungen lassen ja seit Jahren die Kassen in Hollywood klingeln. Der Grund, warum ich in diesem Absatz zwei Bände zusammenfasse, ist: Die beiden sollte man mal verfilmen. Wenn das gut gemacht wird, also mit wertigen Spezialeffekten und guten Leuten vor und hinter der Kamera, könnte das ein Erfolg werden und vielleicht sogar zwei neue Franchises etablieren. Geschichten gibt es in beiden Fällen genug. Da haben wir zum einen Mike Grells Fantasy-Abenteuer "Warlord", das ich als Flohmarkt-Fund und Teil der Ehapa-Reihe "Die großen Phantastic-Comics" kennen und lieben gelernt habe. Erzählt wird die Geschichte des amerikanischen Piloten Travis Morgan, der nach einem Absturz ins Innere der Erde gerät und feststellt, dass diese hohl ist. Allerdings bastelt er sich nach dieser Erfahrung keinen Aluhut, sondern passt sich zunächst optisch, später immer mehr auch in seinem Verhalten seinem neuen Zuhause an - einer fantastischen Welt ohne Nacht, bevölkert von Barbaren und Robotern, Monstern und Magiern, Sauriern und Drachen. Skartaris - so der Name dieses Ortes - kennt nur eine Regel: Erwarte das Unerwartete. Auf seiner Reise durch das unwirtliche Gebiet wird aus dem Mann mit dem weißen Bart eine lebende Legende. Es gibt die Warlord-Reihe als Neuauflage im Cross-Cult-Verlag, allerdings in Schwarz-Weiß und bereits nach drei Folgen eingestellt. Da lohnt es sich fast mehr, die alten Ehapa-Alben zu sammeln.

Ebenfalls legendär sind die Sagen um König Artus und die Tafelrunde. Mike W. Barr verlagerte das Epos in den 80ern in eine ferne Zukunft, in der die Erde von aggressiven Aliens bedroht wird. Nachdem der britische Monarch aus jahrhundertelangem Schlaf erwacht ist und sein Schwert Excalibur erneut aus dem Stein gezogen hat, versammelt er seine Getreuen um sich. Das Problem: Die meisten wissen nichts davon, dass sie wiedergeborene Ritter aus dem Mittelalter sind. Und nach erfolgreicher Erweckung finden sich auch nicht alle mit ihrem neuen alten Leben zurecht. Früher oder später kreuzen natürlich die Invasoren aus dem All und die Beschützer von Mutter Erde die Klingen. Noch spannender sind allerdings die Intrigen und Verwirrungen am Rande. Das Ganze fangen Brian Bollands liebevolle Zeichnungen perfekt ein. Der recht edel aufgemachte Sammelband aus dem Hause Panini lohnt den Zugriff. Jäger und Sammler suchen sich vielleicht lieber die alten Alben aus den 80ern zusammen, die seinerzeit genau wie "Warlord" als "große Phantastic-Comics" veröffentlicht wurden.

Turk & Bob de Groot: Percy Pickwick 1: Sieben Tage Angst (Carlsen-Verlag, 1983)

"Zack", "Fix & Foxi", "Yps" - in meiner Kindheit gab es diverse Magazine, die Comics als Fortsetzungsgeschichten veröffentlichten. Darunter waren Funnys, relativ harte Historienabenteuer, viel aus Frankreich und Belgien, und das meiste erschien später in Form überteuerter Alben bei Carlsen. Das galt auch für die Krimi-Abenteuer von Percy Pickwick (der eigentlich "Clifton" heißt). Der ist Offizier und Geheimagent im Ruhestand und so britisch, wie es nur geht. Er liebt die regelmäßige Teestunde, gute Manieren, seinen gepflegten Schnauzbart und Katzen. Statt allerdings sein Rentnerdasein zu genießen, lässt er sich immer wieder darauf ein, mehr oder weniger mysteriöse Kriminalfälle zu lösen. Und oft genug holt ihn die Vergangenheit ein, denn auch seine alten Gegner finden keine Ruhe. "Tim & Struppi" trifft "Inspektor Barnaby" - diese Beschreibung trifft Ausrichtung und Atmosphäre der Clifton-Comics ganz gut. Die Geschichten stammen aus den frühen 70ern und sind schon allein deshalb angenehm entschleunigt. Percy Pickwick ist nicht James Bond, eher schon den Schrullen eines Sherlock Holmes verpflichtet. Trotzdem oder gerade deshalb machen vor allem die ersten paar Bände der Reihe unglaublich Spaß. Sie sind quasi das gedruckte Äquivalent zu den Wiederholungen von Krimiserien im Nachmittagsfernsehen. Man weiß, dass alles gut ausgeht, und genießt bis dahin die wohlige Spannung. Ich sage schon seit Jahren, irgendjemand sollte mal für Carlsen den "Tatort" aus Münster umsetzen...

Richard Corben: Rowlf & Die Bestie von Wolfton (Volksverlag, 1981)

Achtung! Schweinkram! Aber ich muss euch enttäuschen: Als mir das Cover dieses Comics zum ersten Mal ins Auge fiel, war ich zarte acht Jahre alt. Dementsprechend galt meine Aufmerksamkeit nicht der barbusigen Dame im Hintergrund, sondern ausschließlich den beiden kämpfenden Monstern davor. Ich malte mir aus, welche Geschichte wohl hinter diesem Duell des Werwolfs und der echsenartigen Bestie stecken mochte. Erfahren habe ich es satte 20 Jahre später. Nicht ohne Grund erschien Richard Corbens "Rowlf" in der Reihe "Comics für Erwachsene" - das hielt mich als Kind fast so sehr davon ab, im Zeitschriftenladen darin zu blättern, wie der gestrenge Blick von Frau Kraus, der Inhaberin. Um es kurz zu machen: Corben ist in der Szene nicht bekannt dafür, der größte Verfechter eines modernen Feminismus zu sein. Frauen werden in seinen Comics bestenfalls gerettet und haben praktisch nie etwas an. Und der ungewöhnliche Protagonist der vorliegenden Geschichte ist natürlich kein Werwolf, sondern tatsächlich ein Mann gewordener Hund. Letztlich handelt es sich um eine Fantasy-Version von "Rotkäppchen", aufgebretzelt durch Themen wie unterdrückte Sexualität und das Tier in uns allen. Warum dieser Comic in der Bestenliste eines Gutmenschen wie mir auftaucht? Weil Corben ein großartiger Erzähler und Zeichner ist - und "Rowlf" (so heißt übrigens auch der Pianist der "Muppet Show") ein frühes Beispiel für die Umsetzung filmischer Mittel in einem gezeichneten Medium.

Juan Diaz Canales & Juanjo Guarnido: Blacksad - Irgendwo zwischen den Schatten (Carlsen-Verlag, 2001)

John Blacksad ist Privatdetektiv. Einer von der knallharten Sorte. Er wühlt im Dreck und macht sich die Hände schmutzig. Er folgt immer seinem Instinkt. Seine Schwäche: junge Damen und alter Whisky. Seine Stärken: Spürsinn und flinke Fäuste. Und hatte ich erwähnt, dass Blacksad ein Kater ist? Irgendwie habe ich ein Faible für anthropomorphe Tiere im Comic. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass meine Generation mit sowas sozialisiert wurde: Micky und Donald, Tom und Jerry, früher noch Reineke Fuchs. Die Abenteuer von Blacksad sind durchaus im Reich der Fabeln angesiedelt, verlegen es allerdings in das Setting eines Humphrey-Bogart-Krimis. John Blacksad ist natürlich Sam Spade und Philip Marlowe. Die Großstadt ist sein Revier, seine Gegner sind das organisierte Verbrechen, korrupte Polizisten und das Gesindel in den dunklen Gassen. Im regennassen Asphalt spiegeln sich Blaulicht und Rotlicht. Und Blut sieht nachts schwarz aus. Allerdings sind nicht alle Katzen grau: Rassismus ist ebenfalls ein Thema, das macht den schwarzen Kater zum Shaft seiner Welt. Die Zeichnungen sind schlichtweg genial, die Atmosphäre ist dicht und die Spannung greifbar. Dieser spanische Comic hat ein verdammt hohes Niveau und nicht umsonst jede Menge Preise abgeräumt. Steigt ruhig mit dem ersten Band ein. Die restlichen kauft ihr dann automatisch. Sagt mein Spürsinn.

Fritz Leiber (Mike Mignola): Fafhrd und der Graue Mausling (Cross Cult, 2007)

Es gibt im Wesentlichen zwei Fantasy-Autoren, die mich quasi durch mein komplettes Nerd-Leben begleitet haben: Michael Moorcock und Fritz Leiber. Der Letztgenannte hat mit dem hünenhaften Nordmann Fafhrd und seinem kleingewachsenen Begleiter, dem ehemaligen Zauberlehrling Grauer Mausling, eines der wichtigsten Duos im Genre geschaffen. Es ist die klassische Buddy-Geschichte von den beiden unterschiedlichen Helden, die beste Freunde werden - die "Hercules"-Fernsehserie der 90er hat sich weitgehend daran orientiert. Stellt euch Bud Spencer und Terence Hill im Kampf gegen finstere Mächte und mächtige Finsterlinge vor, das kommt ganz gut hin. Die beiden wortgewaltigen Schwertkämpfer durchstreifen meist die engen Gassen der Stadt Lankhmar, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Die Comic-Umsetzung hat glücklicherweise ein ähnlicher Querkopf übernommen, wie Leiber einer war: Mike Mignola hat mit "Hellboy" Geschichte geschrieben. Sein Zeichenstil ist speziell, erinnert an Radierungen, deutet mehr an als es detailliert zu zeigen. Das passt hervorragend zu den manchmal surrealen Sword & Sorcery-Storys um das ungleiche Gespann. Es macht höllisch Spaß, dem Barbaren und dem Dieb dabei zuzuschauen, wie sie sich aus vermeintlich ausweglosen Situationen herauskämpfen oder -quatschen. Ich habe meine Ausgabe übrigens von meinem besten Kumpel zum Geburtstag bekommen. Der ist zwei Köpfe kleiner als ich. Aber wir tragen keine Schwerter.

Mark Millar & John Romita jr.: Kick-Ass (Marvel, 2010)

Mark Millar ist ein verdammtes Genie. Wer bis hierhin durchgehalten hat, könnte den Eindruck bekommen haben, dass ich mit diesem Begriff leichtfertig umgehe. Aber das stimmt nicht. Es ist einfach so, dass ich praktisch alles, was der Mann bisher gemacht hat, so perfekt finde, dass man ruhig mal mit Superlativen hantieren darf. Selbst sein Marvel-Comic "Civil War", mit dem ich inhaltlich sehr hadere (und der übrigens sehr wenig mit dem gleichnamigen Film zu tun hat), ist eine grandios geschriebene Geschichte, nicht weniger. Millars Meisterwerk ist allerdings "Kick-Ass", und zwar der Comic und der Film. Beide hängen relativ weit oben in meinen entsprechenden Bestenlisten. Der Streifen ist übrigens keine Verfilmung des Strips, Drehbuch und Comic-Script sind quasi parallel entstanden - und allein damit beweist der Autor sein Talent, indem er die unterschiedlichen Medien unterschiedlich bedient. Aber worum geht es überhaupt? Um den sehr normalen US-Teenager Dave, der sich fragt, weshalb sich noch nie jemand tatsächlich als Superheld versucht hat. Im grünen Trainingsanzug, ausgestattet mit einer Skimaske und zwei Schlagstöcken, versucht er unter dem Namen "Kick-Ass", genau diese Idee in die Tat umzusetzen. Natürlich geht alles schief, und der Schlacks muss feststellen, dass der Kampf gegen das Verbrechen sehr schmerzhaft und blutig ist. Als er auf Gleichgesinnte trifft, erkennt Dave jedoch, dass er sich auch von harten Rückschlägen nicht aufhalten lassen will. Wow! Dieser Comic ist mitreißend, brutal, dreckig, pathetisch und optimistisch zugleich. Auch und gerade als Sammelband, also am Stück. Das hat er allenfalls mit dem zugehörigen Film gemein, und nach jeder Lektüre bin ich fast versucht, mir Schlagstöcke zu bestellen. Oder zumindest einen grünen Trainingsanzug.

Alan Moore & Dave Gibbons: Watchmen (Panini, 2008)

"Ich bin hier nicht mit euch eingesperrt. Ihr seid hier mit mir eingesperrt." So steht es auf der Startseite meines Twitter-Accounts. Und Eingeweihte wissen: Dieses Zitat stammt aus dem Comic... pardon: der Graphic Novel "Watchmen". Deren Autor Alan Moore ist nicht nur optisch sowas wie der Michael Moorcock der Comic-Welt: ein wildbärtiger Hippie mit Herz und leicht vernebeltem Hirn. Keine Ahnung, wie oft die Story um die Wächter, die ihrerseits bewacht werden (oder eben nicht), mittlerweile neu aufgelegt wurde - mindestens ein halbes Dutzend mal, in verschiedenen Editionen. Ich habe mir irgendwann die relativ neue Fassung von Panini zugelegt, da bekommt man alle Teile und ein paar Hintergrundinfos in guter Druckqualität. "Watchmen" ist übrigens einer der wenigen Comics, der optisch und inhaltlich dicht an der Vorlage verfilmt wurde und trotzdem auch auf der Leinwand überzeugt. Für so etwas ist ein bildverliebter Regisseur wie Zack Snyder genau richtig - mit anderen Superheldenfilmen ist er ja später grandios gescheitert. Zur Handlung: Wir befinden uns in einer alternativen Zeitlinie, genauer gesagt in den 80er Jahren. Richard Nixon ist noch immer Präsident der Vereinigten Staaten, der globale Frieden steht auf der Kippe. Ein weiterer Unterschied zu unserer Realität: Wir haben Cosplayer und "Real Life Heroes", in dieser Welt jedoch nehmen die kostümierten Verbrecherjäger ihren Job verdammt ernst. Unter ihnen: der zynische und gewalttätige Comedian, der verbitterte Einzelgänger Rorschach, der privat verklemmte Superdetektiv Night Owl - und Dr. Manhattan, der als Einziger tatsächlich über übermenschliche Fähigkeiten verfügt und längst den Kontakt zu den Menschen verloren hat. Die so genannten Watchmen wurden von der Regierung in den Ruhestand gezwungen, aber als einer von ihnen einem Mord zum Opfer fällt, müssen die verbliebenen Mitglieder sich zusammenraufen. Sie kommen einer Verschwörung auf die Spur, bei der es um das Schicksal der gesamten Menschheit geht. Superman als verwirrter Halbgott? Batman mit Potenzproblemen? Ein selbst ernannter Held, der Straftäter gnadenlos niedermetzelt und darüber Tagebuch führt? Diese verwegene Gruppe hat so gar nichts zu tun mit jenen Helden in Unterhosen, als die Superhelden im Comic meist verstanden werden. Die Geschichte ist düster und realistisch, die Texte und Dialoge einfach nur grandios und die Zeichnungen aus der Feder von Dave Gibbons gerade wegen ihrer klassischen Linienführung absolut passend. Wer tatsächlich noch nicht glaubt, dass Comics komplexe Handlungen transportieren und wirklich Literatur sind, wird nach wenigen Seiten für immer schweigen. Rorschach-Tagebuch Ende.