Freitag, 14. Oktober 2016

Herzensangelegenheiten

Am Anfang war der Tod. Am 16. März 1990 wurde Andrew Wood, Sänger und charismatisches Aushängeschild der aufstrebenden Band Mother Love Bone, leblos aufgefunden. Seine Heroinabhängigkeit hatte den 24-Jährigen das Leben gekostet.

Zuvor war seine Formation - bestehend aus ehemaligen Mitgliedern von Malfunkshun und Green River - als "das nächste große Ding" gehandelt worden. Ihre ungewöhnliche Hingabe zum Glamrock der 70er machte sie zu einem so hörenswerten wie originellen Act und platzierte ihre Heimatstadt Seattle auf der unübersichtlichen Karte der Rockmusik. Das plötzliche, vielleicht nicht ganz unerwartete Ableben ihres Frontmanns beendete die Laufbahn der Band jedoch, ehe sie richtig beginnen konnte. Und schuf gleichzeitig eine lokale Legende.

Chris Cornell, Sänger von Soundgarden (die ihrerseits ebenfalls in den Startlöchern für eine größere Karriere standen), verarbeitete den Verlust mit zwei Songs, die er seinem verstorbenen Freund widmete. Das melancholische "Say Hello 2 Heaven" und das an Neil Young erinnernde "Reach Down" wollten jedoch nicht recht zum Material seiner eigenen Band passen, die schon damals eher auf den Spuren von Led Zeppelin und Black Sabbath unterwegs war. Mit seinem Drummer Matt Cameron, den beiden Mother-Love-Bone-Musikern Jeff Ament und Stone Gossard sowie dem Gitarristen Mike McCready rief er daher das Projekt Temple Of The Dog ins Leben. Man traf sich zu ausgiebigen Jam-Sessions, die schließlich in Aufnahmen eines gemeinsamen Albums gipfelten.

Zu den neuen Stücken gehörte die Ballade "Hunger Strike", mit deren Refrain Cornell haderte. Daher baten die Musiker einen jungen Surfer und passionierten Sänger ins Studio, der parallel dazu mit dem ersten Album einer neuen Band um Ament, McCready und Gossard beschäftigt war: Eddie Vedder. Während also die erste und einzige Veröffentlichung von Temple Of The Dog langsam Gestalt annahm, entstand zeitgleich das Debüt von Pearl Jam - beide Werke etablierten Seattle endgültig als das neue Mekka für Freunde knackiger Gitarren in klassischem Stil.

Die großen Plattenfirmen schickten natürlich eilig ihre schwarzen Reiter in den amerikanischen Norden, um dort alles unter Vertrag zu nehmen, was ein Karohemd trug und/oder eine Gitarre vor dem Bauch hängen hatte. Das Label Sub Pop galt Kennern bald als nun nicht mehr so geheimer Tipp auf der Suche nach interessanten Bands. An deren Spitze machte ein Trio aus Aberdeen (Washington) von sich reden, das von einem blassen, blonden Jungen mit Bartstoppeln und traurigem Blick angeführt wurde. Kurt Cobain - so der Name des leidenschaftlichen Punk-Fans - wollte alles, aber ganz gewiss kein Rockstar werden. Der weltweite Erfolg seiner Band Nirvana machte aber aus ihm genau das. Schwere Zeiten für einen depressiven Einzelgänger mit Magenproblemen. Und während der restliche Planet zu "Smells Like Teen Spirit" tanzte, suchte er nach einem Ausweg aus dem unverhofften Ruhm.

Unterdessen spülte die Grunge-Welle (so nannte die Musikindustrie das neue Genre, das eigentlich keins war) weitere hörenswerte Bands in vordere Hitparaden-Regionen. Soundgarden, Alice In Chains und die Screaming Trees bekamen verdientermaßen ihren Teil vom Kuchen ab. Andere wie der schwergewichtige Tad oder die unberechenbaren Melvins blieben zu schräg für den Mainstream. Ähnliches galt für die Szene-Veteranen Mudhoney um Green-River-Mann Mark Arm, die nicht bereit waren, ihren lärmigen Garagenrock dem Massengeschmack anzupassen.

Das taten andere: Eine zweite Welle rollte an, diesmal nicht zwingend aus Seattle oder nahegelegenen Städten, sondern aus Großbritannien (Bush), Australien (Silverchair) oder zumindest aus Kalifornien (Stone Temple Pilots). Inzwischen erinnerten allenfalls Attitüde und Optik noch daran, was den Grunge ausgemacht hatte. Die Musik war meist melodischer College-Rock, von der Experimentierfreude, die zwischen dem klassischen Stadionrock von Pearl Jam und dem Punk-Pop von Nirvana alles möglich gemacht hatte, war nicht mehr viel übrig.

Heute spricht man in diesem Zusammenhang gern von der letzten großen Revolution in der Rockmusik, und da ist ja auch was dran. Der Erfolg der genannten Bands hat einiges verändert, hat möglich gemacht, dass auch ungewöhnliche und ungewohnte Klänge durchaus Gehör finden. Bunt waren sie, die 90er, und laut, und wir hatten unseren Spaß mit der Tristesse und den tief hängenden sechs Saiten.

Einem wurde das alles schnell zuviel. Cobain haderte mit seiner Popularität, flüchtete sich in bewusst unkommerziell produzierte Songs, in eine kaputte Ehe und immer wieder in Halluzinogene. Am 5. April 1994 nahm der 27-Jährige sich mit einer Überdosis und einem Schuss in den Kopf das Leben. Nur vier Jahre lang hatte der Grunge die Welt ein bisschen lauter gemacht und der Generation X ihren passenden Soundtrack verpasst. Am Ende war der Tod.


Herzensangelegenheiten

Es gibt kaum eine uncoolere Band als Toto. Und da ich alle ihre Alben besitze, macht sie das zu meiner uncoolsten Lieblingsband.

Es war Ende der 80er, ich war jung und hätte es trotzdem eigentlich besser wissen müssen. Schlimmer noch: Ich wusste es besser. Obwohl ich längst dem stampfenden Indie-Rock von New Model Army huldigte und den launigen Drei-Akkorde-Punk der Ramones verehrte, nahm ich mit ähnlicher Begeisterung Anteil am Wirken einer Band, die ein keyboard- und klischee-affiner Mitschüler mir empfahl. Ich bin ehrlich: Er rannte allenfalls angelehnte Türen ein. Bereits in noch jüngeren Jahren hatte ich Totos wenig originell benanntes viertes Album "IV" als kostengünstige Wühltisch-LP erworben und Gefallen nicht nur an den mir vorab bekannten Singles gefunden. "Rosanna" und vor allem "Africa" liefen seinerzeit gerne und oft im von mir bevorzugten heimischen Radiosender und seither auch auf meinem Plattenspieler. Als besagter Schulfreund mir also das ebenfalls leidlich kreativ betitelte siebte Werk "The Seventh One" auf Cassette aufnahm, wusste ich nur zu gut, was ich mir da ins Haus holte.

Rannte ich daher sehenden Auges ins Verderben? Zog mich gar der Herdentrieb auf die dunkle Seite, wo zuckergusssüße Melodien und allenfalls auflockernde Gitarrenriffs herrschten? Nein - es war ganz anders. Ich wollte es so. Damals wie heute geht mir nämlich ums Verrecken nicht in den sturen Schädel, weshalb man im Leben immer und immer wieder belehrt wird, man habe etwas zu lassen, weil man etwas anderes tue. Und so mache ich ganz gern mal beides, ohne eines zu vernachlässigen. Soll heißen: Meine Liebe zu den Ramones und New Model Army war und ist so ehrlich wie jene zu Toto (und übrigens auch vergleichbaren Interpreten). Oder anders: Würde ich meine Tonträgersammlung noch konsequenter alphanumerisch sortieren, so stünde Reinhard Mey gar nicht so weit entfernt von Napalm Death. Und das ist nicht nur gut so, sondern macht vor allem Spaß.

Dogmatiker und Genre-Veteranen, die sich nicht bereits beherzt übergeben, werden einwenden, dass insbesondere Toto unter allen uncoolen Bands schon immer die mit Abstand uncoolste war. Dem entgegne ich zweierlei. Erstens: Begriffe dieser Art sind so hohl, dass ich sie mir am liebsten selbst definiere. Und zweitens: Ihr habt ja recht - und ich pfeife drauf (so melodisch mir das möglich ist).

Wer einfach gerne Musik hört (und dazu ist sie letztlich da), dem sollte schnuppe sein, was die Szene- oder Mucker-Polizei davon hält. Meine musikalische Sozialisation fand zu nicht unerheblichen Teilen durch meinen deutlich älteren Bruder statt, der heute ein Faible für Country und Southern Rock hat und früher dem klassischen (Hard-)Rock sein Gehör opferte. Black Sabbath, Led Zeppelin, Deep Purple (in der Mark-II-Besetzung), aber auch Pink Floyd und Blue Öyster Cult, Boston und Chicago, The Who und Jethro Tull, Queen und AC/DC - das waren die Helden meiner musikalischen Kindheit. Groß wurde ich dann in einer Welt, die ich mir selbst erschloss - mit The Cure und den Sisters Of Mercy, mit Depeche Mode und Camouflage, mit den Sex Pistols und den Replacements, mit U2 und Midnight Oil. Wenig später kamen (am liebsten innovativer) Metal und (am liebsten origineller) HipHop hinzu. Und meine ewige Hingabe für das Schaffen der Herren Springsteen, Young, Reed und Waits. Und Grunge. Und Crossover. Und Funk. Und Soul. Und Jazz. Und verdammt nochmal alles, was gut ist.

Hinzu kommt außerdem, dass nicht nur Toto-Gitarrist Steve Lukather seine Band für gnadenlos unterschätzt hält (wie er auf seinem Twitter-Account betont). Das, was sie so verhasst macht, ist ihre Stärke: Hier haben sich souveräne Studiomusiker versammelt, die natürlich nicht den Anspruch haben, die Musik zu revolutionieren, sondern sauber produzierten, unglaublich gut gespielten Radio-Rock-Pop zu veröffentlichen. Geschmeidige Gesangslinien, überraschend komplexe Rhythmen, unvergessliche Refrains, Herz, Hirn und selbstverständlich banale Texte erinnern heute an eine längst untergegangene Ära, an jene Jahre, in denen es ziemlich okay ging, sich ein Journey-Album oder eine Single von Hall & Oates zu kaufen. Das ist nostalgisch, das ist wunderbarer Eskapismus, und das macht in den richtigen Momenten Laune oder sogar Gänsehaut. Klar hatten Toto ihre Tiefpunkte (Lukather erinnert sich zum Beispiel ungern an die Zeit, als er sich auf der Bühne fragte, wo zum Teufel die ganzen Porcaro-Jungs denn seien). Aber ihre Höhepunkte machen das mehr als wett. Hört euch mal wieder "Hold The Line" an. Und zwar bewusst. Und dann haltet die Klappe.

Im Übrigen passiert gerade etwas Ähnliches, wie ich es in den 90ern bereits erlebt habe: Uncool wird das neue Cool. Mitschüler, die mich und meinen Musikgeschmack kurz zuvor noch verächtlich belächelt hatten, wollten damals Mixtapes mit all jenen Bands von mir, auf die sich die seinerzeit neuen Helden beriefen. Die Stooges waren langweiliger Rock für alte Leute, bis Cobain ein T-Shirt von ihnen trug. Die Doors waren out, bis der Film im Kino lief. Und wo klauten Soundgarden nochmal ihre Riffs? Die Online-Serie "Yacht Rock" und die Sampler-Reihe "Too Slow To Disco" hieven aktuell den Softrock der späten 70er und frühen 80er ins Feuilleton. Inklusive all der Schnauzbärte und gewagten Frisuren.

Kein "Ich hab's euch ja gleich gesagt" an dieser Stelle von meiner Seite. Das wäre mir zu uncool.