Dienstag, 19. Juli 2016

Mein Dogma (IV)

Der kleine Sonnenkönig ist schuld. Und es freut mich, dass in diesem ersten Satz das Wort "Schuld" vorkommt. Denn das mag der kleine Sonnenkönig gar nicht gern. Auch das Wort "Dogma" gefällt ihm nicht, deshalb ist es gut, dass es im Titel auftaucht.

Es gibt ohnehin nicht viel, das dem kleinen Sonnenkönig gefällt. Denn gefällt ihm etwas, so hat er keinen Grund, seine Macht zu demonstrieren. Diese besteht darin, sein ihm ergebenes Volk zu erpressen, indem er für den Fall mangelnder Zustimmung sehr blutige Konsequenzen ankündigt. Um den Unterdrückten zu beweisen, wie ernst es ihm ist, wirft der kleine Sonnenkönig sehr gern sein Mobiltelefon in den Fluss. Oder er rasiert sich seine Haare ab. Oder er versteckt sich im fernen Osten und trinkt viel Alkohol. Sein Volk macht sich dann immer Sorgen um den vermeintlich bedrohten Herrscher. Und auch das gefällt dem kleinen Sonnenkönig. Also gefällt ihm eigentlich doch recht viel.

Am liebsten fotografiert der kleine Sonnenkönig andere beim Sex. Danach verfremdet er die Bilder bis zur Unkenntlichkeit, das ist dann Kunst oder muss zumindest vom Volk so genannt werden. Wer sich nicht an diese Regeln hält, die der kleine Sonnenkönig als völlig undogmatisch und frei von Schuld anpreist, muss nicht nur verantworten, dass der Monarch zu Handy oder Schere greift. Er ist zudem ein "Spießer" und ein "Wessi" und ein "Protestant", zumindest nennt ihn der kleine Sonnenkönig so.

Warum der kleine Sonnenkönig all das tut? Es ist ihm wichtig, immer und überall deutlich zu machen, dass er der Mittelpunkt des Universums ist. Darum hat er sich sein Symbol, die Sonne, auf den Bauch tätowieren lassen. Und darum geht er sehr sparsam mit jenem Begriff um, der das Gegenteil von "Protestant" und "Wessi" und "Spießer" ist: "Du bist so 'ne Sonne" - dieses royale Lob bekommen nur wenige zu hören.

Die meisten anderen Menschen sind für den kleinen Sonnenkönig einfach "Menschen". Mehr an Beachtung oder Unterscheidung haben sie nicht verdient. Schließlich sind sie das Volk, und das Volk muss nur gehorchen. Manche Menschen nennt der kleine Sonnenkönig wegen ihres Alters "kleine Menschen". Und einen nennt er gar "den wichtigsten Mensch". Dieser hat eine verantwortungsvolle Aufgabe: Er muss streng darauf achten, dass das Volk pariert und nicht gegen die Regeln, die nicht Dogmen genannt werden dürfen, verstößt. Zu diesem Zweck beschreibt "der wichtigste Mensch" die Folgen einer eventuellen Zuwiderhandlung oder mangelnden Gehorsams in apokalyptischen Szenarien. Viele davon enthalten das Ableben des kleinen Sonnenkönigs. Und das möchte natürlich niemand verantworten - also die Schuld daran auf sich laden, die nicht Schuld genannt werden darf.

Kompliziert? So sind sie eben, die Gedankengänge des kleinen Sonnenkönigs. Da schwebt er also in der Mitte seines Universums, während "der wichtigste Mensch" um ihn kreist und das Volk dabei zusieht oder dann und wann begeistert applaudiert. Zum Beispiel, als der kleine Sonnenkönig sein komplexes Regelwerk um eine ganz einfache Vorgabe ergänzte. Sie lautet: Der da ist der Böse. Es ist dem kleinen Sonnenkönig egal, weshalb das so ist. Er zelebriert die Verachtung für seinen neuen Todfeind mit lechzender Begeisterung hinter dessen Rücken. Und dem Volk sind die Hintergründe ohnehin egal. Es erfüllt seine Aufgabe, es jubelt dem Herrscher zu und ist froh, dass der kleine Sonnenkönig weiterhin leuchtet statt zu trinken oder sich zu rasieren oder Richtung Osten aufzubrechen.

"Der da" bin ich. Ich bin das einzige Ziel im kaputten Dasein des kleinen Sonnenkönigs, und ich habe einige Zeit gebraucht, um mich an diese Rolle zu gewöhnen. Denn früher einmal hat der kleine Sonnenkönig so getan, als sei er mein Freund. Hat diese Lüge aus Feigheit aufrecht erhalten, die nun mal sein wesentlicher Charakterzug ist. Und hat erst die Wahrheit rausgelassen, als der Moment unpassender nicht sein konnte. Was ist schon der Tod eines lieben Menschen, wenn der kleine Sonnenkönig seinen Auftritt haben will?

Abstand sollte ich halten, forderte der kleine Sonnenkönig. Das war leicht und tat gut, nahm anstrengende und sinnlose Aufgaben aus meinem Leben und Menschen, auf deren Heuchelei ich dankend verzichte. Nun funkelt er mich böse an, aus seinen kleinen misstrauischen Sonnenkönigaugen, die viel zu oft auch auf diese Seiten gerichtet waren.

Ich halte Abstand, schon aus Verachtung. Und ich habe aufgehört, Texte zu schreiben. Nur selten wurde hier etwas veröffentlicht, weil ich dem kleinen Sonnenkönig keine neue Munition verschaffen wollte.

Doch das ist nun vorbei. Der kleine Sonnenkönig ist nur ein armer Wurm und sein Universum nicht meins. Ich wünsche ihm alles Schlechte. Ich schreibe wieder, soll er doch meine Worte hinter meinem Rücken fehl- und überinterpretieren, wenn ihm danach ist. Das ist nicht meine Schuld. Es ist die des kleinen Sonnenkönigs. Ich bin nicht das Volk.