Donnerstag, 1. Januar 2015

Mein Dogma (III)

"Der Markus sagt immer, was er denkt. Das schätze ich so an ihm." Mit diesen Worten versuchte meine Tante vor ein paar Jahren, einen massiven Eklat während einer Familienfeier zu relativieren. Der erste Satz war die Wahrheit, der zweite nicht.

Tatsächlich bin ich immer ehrlich. Oder um ehrlich zu sein: Ich versuche es, so gut ich kann. Manchmal fragt man mich, weshalb ich das tue. (Ich selbst frage mich das nie, aber dazu kommen wir noch.) Häufig antworte ich dann wahrheitsgemäß, dass ich nicht mal verstehe, weshalb man diese Frage überhaupt stellt. Denn eigentlich sollte Standard sein, was mir zwar nicht einfach erscheint, aber inzwischen selbstverständlich: Unehrlichkeit ist mir seit jeher zuwider, mit Lügen kann ich nicht umgehen. Ob das eine Frage der Erziehung ist (mein Vater war oft ehrlich bis zur Schmerzgrenze - auch dazu kommen wir noch) oder ob das Leben mich geprägt hat, ist gleichgültig. Ich habe Gründe, am liebsten die Wahrheit zu sagen, und es sind gute Gründe.

Worte können noch mehr verletzen als Schläge. Und das ganz besonders, wenn man nicht mit ihnen rechnet. Wenn man glaubt, einen anderen Menschen zu kennen (oder zumindest seine Eigenschaften), er dann aber aus heiterem Himmel eröffnet, nicht ehrlich gewesen zu sein, bricht einem das nicht die Nase, aber ziemlich sicher das, was medizinisch Ungebildete als "Herz" bezeichnen. Das hat niemand verdient. Stattdessen verdient jeder ein Mindestmaß an Respekt, auch in Auseinandersetzungen. Und das bedeutet: Jeder Mensch verdient die Wahrheit.

Auch die Wahrheit kann verdammt schmerzhaft sein, sie kann ebenfalls das "Herz" brechen. Aber nichts ist so unumstößlich wie die Realität. Sie ist ein Hindernis, auf das wir alle früher oder später stoßen. Mit dem wir alle leben müssen. Das ist die eben Wahrheit. Akzeptiert sie und lernt, damit umzugehen. Alles andere wäre verlogen.

Das heißt nicht, dass Hoffnung eine Lüge ist. Die Realität kann sich verändern, sie tut das in jeder Minute unseres Lebens. Aber man kann nur dazu beitragen, wenn man sie kennt. Wenn man die Wahrheit kennt und nicht einer Lüge glaubt.

Auf Lügen zu verzichten und ehrlich zu sein, ist nicht einfach. Tatsächlich ist es sogar verdammt schwer. Ehrlichkeit beginnt bei kleinen, alltäglichen, oft achtlosen Fragen wie etwa: "Na, wie geht's?" Die meisten antworten ebenso achtlos: "Ganz gut." Aber das stimmt nicht immer. Häufig genug geht es ihnen schlecht, manchmal sogar beschissen. Wer mir diese Frage stellt, bekommt in der Regel eine ehrliche Antwort, und die hängt eben von der Tagesform ab. Generell habe ich kein Problem damit, recht klar und deutlich zu sagen, was ich von jemandem oder von einer Sache halte, und das betrifft eben auch mein persönliches Lebensgefühl. Das Ergebnis ist etwas, mit dem ehrliche Menschen leben müssen: Wer nicht einstimmt in den heuchlerischen Chor der Glücklichen gilt früher oder später als latent deprimiert. Das bietet reichlich Gelegenheit für Spott und Kritik aller Art. Ihr wollt nicht lügen? Dann findet euch damit ab, dass das nicht jeder gut findet. Auch das ist die Wahrheit. Und betrifft im Übrigen größere Fragen noch mehr als die beispielhaft geschilderte kleine.

Mein Vater hatte nicht zu Unrecht den Ruf, ein ziemlicher Choleriker zu sein: Wenn ihm etwas nicht gepasst hat, ist er aufgestanden und hat das gesagt, häufig sehr laut. (In jungen Jahren hat er weniger geredet und mehr gehandelt, aber das ist im Fall einer physischen Konfrontation nun wirklich nicht immer die beste Lösung.) Ich habe ganz sicher viele Charaktereigenschaften von ihm geerbt, und Ehrlichkeit gehört - neben einigen weniger positiven - dazu. Das bringt mir den Ruf ein, nicht gerade der geborene Diplomat zu sein. Wer es gut meint, benutzt auch gern mal das Wort "verschroben". Auch damit muss klar kommen, wer sich für den Weg der Wahrheit entscheidet. Menschen werden euch vorwerfen, sie vor den Kopf zu stoßen, obwohl ihr doch genau das vermeiden wollt. Weil sie in unserer Gesellschaft die Wahrheit schon fast nicht mehr gewohnt sind.

Wer ehrlich sein will, sollte das in erster Linie zu sich selbst sein. Das ist der schmerzhafteste Teil dieser Philosophie. Kein Mensch wird euer ganzes Leben bei euch sein - nur ihr selbst. Ihr wart allein, als der Doktor euch auf den Hintern gehauen hat, ihr werdet allein sein, wenn ein anderer Doktor das Beatmungsgerät ausschaltet. Und zwischendurch, wenn ihr durch den Regen lauft, euch das Kissen auf die Ohren drückt oder ihr auf dem Klo sitzt, seid ihr ebenfalls allein. Auch das ist die Realität, auch das ist die Wahrheit. Also fangt besser so früh wie möglich damit an, mit euch klar zu kommen. Seid ehrlich - nicht nur zueinander, sondern vor allem zu euch selbst. Das ist wirklich nicht immer ganz leicht, häufig sogar schwieriger als gegenüber euren Mitmenschen, aber es lohnt sich. Die Wahrheit ist nämlich nicht irgendwo da draußen, sie ist erstmal in uns selbst.

Seit etwas mehr als zwölf Jahren bin ich nicht nur ehrlich, sondern bin das ganz bewusst. In dieser Zeit habe ich Freunde verloren, die offenbar keine waren, habe Streitigkeiten provoziert, die ich hätte vermeiden können, und hatte mehr als einmal ziemlichen Ärger. Aber ich habe auch Freunde behalten, von denen ich weiß, dass sie bleiben werden. Und ich habe gelernt, dem Kerl, den ich morgens im Spiegel sehe, zu vertrauen. Ich bin noch immer kein Riesenfan von ihm, aber er ist eine ehrliche Haut, und das mag ich an ihm wie an anderen Menschen.

Deswegen drücke ich auch ein Auge zu, wenn er mal wieder nicht ganz so ehrlich ist wie geplant. Wenn er eine hundertmal erzählte Geschichte beim 101. Mal ein wenig ausschmückt, um ein paar Lacher zu ernten. Wenn selbst ein Quatschkopf wie er ab und an schweigt, wenn er reden sollte, weil er eben doch manchmal Angst vor der Wahrheit hat. Oder wenn er ein-, vielleicht zweimal im Jahr eine Konfrontation scheut, obwohl er weiß, dass er das später bereuen wird.

Immerhin versucht er wenigstens, die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen. Ganz ehrlich. Und das schätze ich an ihm. Solltet ihr auch mal versuchen.