Dienstag, 29. Dezember 2015

Herzensangelegenheiten

"Der hat 'ne ziemlich viehische Stimme!" Das war das Erste, was ich über Ian Frasier Kilmister gehört habe. Mein Kumpel Henner - damals der einzige echte Metal-Fan in meinem Freundeskreis, inklusive Matte, Kutte und guter Laune - empfahl mir als passioniertem Punkrock-Hörer mit diesen Worten, einer schon seinerzeit alten Band aus England eine Chance zu geben. Ich folgte dem Rat. Und hatte eine neue Lieblingsband entdeckt.

Seitdem habe ich alles gekauft, wo "Motörhead" draufstand und/oder Lemmy drin war. Anders als den Headbangern um ihn herum ging es dem Pfarrersohn aus Stoke-on-Trent nie um aufgesetzte Aggression. Seine Wut war ehrlich, ebenso die Melancholie, die in seiner - tatsächlich ziemlich viehischen - Stimme immer zu hören war.

Der Mann war eine Legende. Es gibt nichts, was nicht bereits über ihn gesagt oder geschrieben worden wäre. Notfalls empfehle ich den Griff zur Autobiografie "White Line Fever", da steht alles drin. Darüber, wie er in jungen Jahren ein Stück von England abgebrochen hat. Auch über die Zeit als Roadie für Jimi Hendrix, den Bassunterricht für Sid Vicious, den Rauswurf bei Hawkwind und den ganzen Kram, den er sich eimerweise in Kehle und Nase geschüttet hat.

Geahnt haben wir alle es schon lange. Abgesagte und abgebrochene Konzerte. Die Sache mit der Pumpe. Die sorgenvollen Gesichter von Phil und Mikkey. Und die Fotos, auf denen er immer dünner wurde. Die 70 an Heiligabend hat er noch geschafft, dann forderten sein Herz, Jahrzehnte als Alkoholiker und Kettenraucher, aber vor allem eine bislang unentdeckte Krebserkrankung ihren Tribut. Hey, die mussten schon einiges auffahren, um den Kerl in die Kiste zu kriegen!

Mach's gut, Lemmy. Wird verdammt leise sein hier unten.

Dienstag, 29. September 2015

Fernseh-Kritik: "Orange Is The New Black"

Skeptischer ist sicher selten jemand an eine Fernsehserie herangegangen: Gehöre ich überhaupt zur Zielgruppe? Sind nach "Prison Break" nicht alle Knastgeschichten erzählt? Und überhaupt - wenn das alle toll finden, muss ich ja nicht auch noch mitmachen.

Um es vorweg zu nehmen: Ich bin froh, dass ich mich überreden ließ, "Orange Is The New Black" eine Chance zu geben. Diese Serie hat Chancen mehr als verdient. Und all das Lob und die Preise, über die in den vergangenen Monaten viel zu lesen war, obendrein.

Worum geht's? Wir folgen dem etwas blasierten Blondchen Piper Chapman (Taylor Schilling) ins Frauengefängnis Litchfield, wo die zunächst selbstbewusste Tochter aus gutem Hause 15 Monate absitzen muss. Jahre zuvor hatte sie ihrer damaligen Freundin Alex Vause (Laura Prepon aus "Die wilden Siebziger") beim Drogenschmuggel geholfen, und nun holt die Vergangenheit sie ein. Das ist ihrer Familie und ihrem anstrengenden Verlobten Larry Bloom (leicht überfordert: Jason Biggs) deutlich unangenehmer als ihr selbst. Erst nach ihrer Ankunft hinter Gittern wird Piper bewusst, was ihr in den kommenden Monaten blüht. Denn das Leben im Knast folgt eigenen Regeln... Wer nun glaubt, diese zu kennen, weil OITNB natürlich nicht die erste Serie ist, die im Gefängnis spielt, stellt spätestens nach zwei Folgen fest, dass die Autoren gerne falsche Fährten legen. Denn in Litchfield ist niemand, wie sie oder er auf den ersten Blick zu sein scheint.

Klischees werden bedient und sofort gebrochen. Es gibt keine klare Grenze zwischen Gut und Böse, weil beide Begriffe keine Bedeutung haben - wie im richtigen Leben folgen die Charaktere ihren Emotionen und eigenen Zielen. Da ist Red, die aus Russland stammende Monarchin der Knastküche (mit explodierter Kurzhaarfrisur und klassischer Janeway-Augenbraue: Kate Mulgrew), Sie schüchtert Piper ein, macht ihr in der ersten Zeit gar das Leben zur Hölle und ist doch selbst eine Frau, die ihre inneren Dämonen mit stolzer Mimik und einem Rest Würde bekämpft. Da ist Lorna Morello (Yael Stone), ein plapperndes Püppchen, das ständig von seiner großen Liebe Christopher schwärmt, hinter Gittern jedoch Trost und Wärme in den Armen der toughen White-Trash-Mieze Nicky Nichols (sympathisch: Natasha Lyonne) findet. Und da ist Crazy Eyes, die eigentlich Suzanne Warren heißt - immer am Rande des Wahnsinns stolpernd, stets im falschen Moment am falschen Ort, aber häufig den richtigen Rat aus ihrem verwirrten Kopf ziehend. Uzo Aduba hat ihren "Emmy" für diese Rolle völlig zurecht bekommen: Sie lebt ihre Figur, mit Blut, Schweiß und Tränen, sie lässt den Zuschauer albern kichern und im nächsten Moment mit kalter Traurigkeit kämpfen.

Ohnehin liegen Lachen und Weinen in diesem Reigen der Gestrauchelten sehr dicht beieinander. Durch die buchstäblich intime Nähe zu den Insassen und dem Gefängnispersonal sind die Gefühle fast greifbar. Sämtliche Darsteller sind mindestens souverän, meistens jedoch großartig (und das bis in die kleinsten Nebenrollen). Ständig reißt das Drehbuch eine neue Falltür auf, schubst eine unerwartete Wendung uns in eine weitere packende Nebenhandlung. OITNB greift sich sein Publikum und zerrt es durch eine so realistische wie spektakuläre Geschichte. Die Leute verändern sich, Gegner werden Freunde, Geliebte zu Todfeinden, und letztlich geht es nur um eins: sich etwas Menschlichkeit zu bewahren in einer grausamen Ausnahmesituation, die für viele der Protagonisten schier unendlich ist.

OITNB macht fast alles richtig. Die Kamera findet ungewohnte Perspektiven und bleibt immer dicht am Geschehen. Die Musikauswahl ist so ungewöhnlich wie passend. Die Dialoge sind häufig brillant. Die Story lässt einen nicht mehr los und legt großen Wert auf Details. Und die Schauspielerinnen und Schauspieler geben alles. Wut und Trauer, Schmerz und Hoffnung, Humor und Hass - all das passiert in schneller Folge, stürzt den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle. Wenn man heißes und kaltes Wasser gleichzeitig aufdreht, wird es lauwarm. Deshalb vermeiden die Produzenten es, Emotionen zu vermischen, sondern sie geben ihnen allen Raum, meist mit hoher Schlagzahl.

Warum nur "fast" alles richtig gemacht wird? Der Handlungsstrang um Pipers wartende Familie und Freunde orientiert sich etwas zu sehr an Woody Allens faselnden Großstadtneurotikern. Aber ohne diesen kleinen Fehler wäre es auch beinahe unheimlich, wie perfekt OITNB inszeniert ist.

Wer noch nicht reingeschaut hat, sollte das definitiv nachholen. Seit "Breaking Bad" gab es keine Serie, die derart süchtig macht. Und so sehr eine Hymne auf das Leben ist.

Montag, 15. Juni 2015

Herzensangelegenheiten

Eine Musik-Cassette, mit Kugelschreiber eher achtlos beschriftet, brachte uns einige Wochen Begeisterung und ungezählte gute Gespräche. Wir - das waren ein seinerzeit guter Freund und ich - hatten das recht gammelige Stück gemeinsam auf dem Oberstadt-Flohmarkt erworben. Vermutlich für ein paar Pfennige, trotzdem teilten wir uns diese Summe brüderlich, um die Frage, wer sie sich wann anhören darf, möglichst schnell und unkompliziert zu beantworten. Die Cassette gehörte jedem zu exakt 50 Prozent. Und somit auch die Hälfte der Diskussionen, die während des ersten gemeinsamen Anhörens in einer kleinen Gruppe begannen.

Die Streaming-Kids und Google-Gewohnheitstiere werden das heute nicht verstehen können. Aber wer Anfang der sehr frühen 90er einen von Unbekannten zusammengestellten und eher achtlos dokumentierten Musikmix auf einem schon damals leicht antiquierten Tonträger erwarb... war ein ziemlicher Freak. Denn was zur Hölle hörten wir da eigentlich? Der größte Teil der Lieder schien von der gleichen Band zu stammen, soviel war am Gitarrensound und vor allem am Gesang auszumachen. Gewissermaßen als Bonus hatte der Vorbesitzer das Band mit zwei weiteren Songs aufgefüllt. In einem davon sang eine uns durchaus bekannt vorkommende Stimme davon, es fühle sich an, als habe jemand dem Ich-Erzähler etwas in seinen Drink getan. Der andere war eine Coverversion von "Like A Hurricane", das wir natürlich in der Originalfassung von Neil Young kannten. Mehr an Infos hatten wir nicht, und der zunächst naheliegende Gedanke, unseren Erwerb in Marburgs seinerzeit beliebtestem Plattenladen vorzuführen, wurde rasch verworfen. Wir befürchteten, die Veteranen dort könnten ihre Expertise mit einer Portion Spott würzen. Oder schlimmer noch: uns zum Kauf der zugrundeliegenden Alben nötigen.

Also hörten wir eifrig unser Tape, analysierten Klangfarbe und Arrangements, wälzten Musiklexika und machten den leiernden Schatz zum Gegenstand manch aufgeregter Debatte. Ich weiß nicht mehr genau, wer uns welchen Tipp gab, aber irgendwann hatten wir raus, was wir da mit zunehmender Begeisterung über verschrammte Boxen und billige Walkman-Hörer laufen ließen. The Mission - ein Ableger der Sisters Of Mercy um deren Ex-Gitarristen Wayne Hussey - hatten sich Old Neil angenommen und damit eine klare Empfehlung ausgesprochen, sich auch ihren eigenen Kompositionen zu widmen. Die Ramones gaben sich mit "Somebody Put Something In My Drink" nicht nur ungewohnt missgelaunt, sondern uns zugleich den Tipp, nicht nur ihre erste Platte aufzulegen.

Und das Album, das den Löwenanteil der mysteriösen Playlist ausmachte? Ist seither eine meiner Lieblingsplatten, von einer meiner Lieblingsbands - und gehört in jeden guten Haushalt: "Pleased To Meet Me" von den Replacements. Gibt's übrigens nicht nur auf verranzten Cassetten. Und eignet sich auch 25 Jahre später noch als Sommer-Soundtrack.

Freitag, 15. Mai 2015

Kino-Kritik: "Mad Max: Fury Road"

Mürrisch zerkaut Max Rockatansky (Tom Hardy) eine zweiköpfige Eidechse, wirft dann den V8 an und rast durch das endlose Ödland, das mal Australien war. Es dauert keine Minute, bis man wieder mittendrin ist in der zerstörten Welt des psychisch labilen Einzelgängers, die zuletzt vor 30 Jahren auf der Leinwand zu sehen war. Und weder dem kaputten Ex-Cop noch den Zuschauern bleibt in den folgenden zwei Stunden viel Zeit zum Luftholen.

Diesmal gerät der postapokalyptische Wüstenwanderer an Immortan Joe (Hugh Keays-Byrne), selbsternannter Erlöser und Herrscher über die einzige Trinkwasserquelle in der Gegend. Maske und Rüstung verbergen den entstellten Körper des physisch offenbar wenig beeindruckenden Tyrannen - seine wahre Macht bezieht er aus der Unterstützung durch seine so genannten War Boys, gleichfalls angeschlagene, aber durch die Blutzufuhr ihrer Opfer kampfbereite juvenile Bleichgesichter, die ihrem Herrn gegenüber klerikal ergeben sind. Joes Brüder sind ähnlich wie er verstümmelt an Körper und Geist, und gemeinsam überfallen die Bewohner der "Zitadelle" genannten Oase in ihren aufgemotzten Boliden regelmäßig die umliegenden Siedlungen, immer auf der Suche nach Treibstoff und Lebenssaft. Zu den Anführern der War Boys gehört die einarmige Amazone Furiosa (Charlize Theron), die jedoch irgendwann nach ihren eigenen Regeln spielt.

Max ist mal wieder zur falschen Zeit am falschen Ort, gerät nur durch Zufall zuerst in die Gefangenschaft der mutierten Horden und dann zwischen die Fronten. Und natürlich - soviel sei verraten - wird er wie in den ersten drei Filmen irgendwann zum unfreiwilligen Helden, der mit der gleichen Härte zurückschlägt, die die bösen Buben an den Tag legen. Das Ende der Zivilisation ist eben kein Kindergeburtstag - spätestens seit "The Walking Dead" ist das auch für ein größeres Publikum nichts Neues.

Hässliche Warlords, deren unheimliche Schergen, auf der anderen Seite abgerissene Außenseiter, dazu absurd konstruierte Rennwagen, das alles in der Gluthitze des fünften Kontinents nach der großen Katastrophe - diese Bilder scheinen dem Fiebertraum des Typen entsprungen zu sein, der für die Meat-Loaf-Plattencover verantwortlich ist. Und sie sind seit drei Jahrzehnten durchaus Klischees. Allerdings ist Regisseur George Miller so ziemlich der Einzige, der sich ihrer bedienen darf: Der Mann hat sie nämlich erfunden. Sein erster "Mad Max"-Film hat 1979 Kinogeschichte geschrieben. Und es ist nicht Millers Schuld, dass italienische Billigproduktionen in der Folge ein fragwürdiges Genre daraus geschustert haben, als sie in den 80ern die Videotheken überschwemmten.

Mit "Mad Max: Fury Road" folgt nun nach langer Pause sowie etlichen Problemen vor und während der Dreharbeiten der vierte Teil der Reihe. Miller zitiert sich selbst, und das ist auch gut so. Denn die wilde Jagd durch die sandige Hölle ist gleichsam Fortsetzung wie Neuanfang. Hardy legt seinen verrückten Max als modernisierte Version der Figur an, die Mel Gibson einst berühmt gemacht hat. Glücklicherweise ist er Schauspieler genug, um nicht nur die physischen Herausforderungen zu meistern, sondern tatsächlich an den Charakter zu erinnern, den wir aus der ersten Trilogie kennen. Andererseits dreht George Miller die Schraube sichtbar weiter: Während in "Mad Max" lediglich ein angekratztes Australien als Kulisse diente und auch in den Sequels die Postapokalypse eher behauptet als gezeigt wurde, bekommen wir diesmal mutierte Kleintiere und vernarbte Menschen zu sehen. Die Gesellschaft, die sich aus dem immer noch recht vage definierten Chaos erhoben hat, lebt nach eigenen Gesetzen, weckt aber gleichsam Erinnerungen an unsere Gegenwart, an Riten, Religionen und Regeln. Bestes Beispiel dafür, dass die hoffnungslose Endzeit in Maxes viertem Abenteuer vergleichsweise realistisch und nachvollziehbar wirkt, sind die War Boys. Sie wurden hineingeboren in eine kaputte Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt. Sie kennen nichts als rücksichtsloses Überleben, noch dazu verblendet durch einen zusammengeklauten Kult, der verhindert, dass sie sich als Individuen wahrnehmen.

Das ist fast schon mehr philosophischer Überbau, als dieser minimalistisch angelegte Film tragen kann. Doch setzt George Miller erfolgreich auf zwei stabile Säulen: Die Darsteller geben alles, und sie schaffen es, aus schwitzenden Abziehbildern tatsächliche Charaktere zu machen. Charlize Theron bewahrt ihrer körperlich wie seelisch angeschlagenen Figur eine beeindruckende Würde, Tom Hardy blutet und leidet und gibt den halluzinierenden Helden, und auch Nicholas Hoult als strauchelnder War Boy Nux ist weit mehr als ein blasser Stichwortgeber. Selbst Keays-Byrne als anämischer Antagonist schafft es, allein über aggressive Blicke bedrohlich zu wirken. (Damit hatte Tom Hardy in "The Dark Knight Rises" ja durchaus Probleme.) Das überrascht kaum, immerhin spielte er bereits im ersten "Mad Max" den Finsterling Toecutter.

Das zweite Standbein sind natürlich die Actionszenen, die man wirklich nur als spektakulär bezeichnen kann. Dabei setzt Miller erfreulicherweise auf handgemachte Verfolgungsjagden und Kampfsequenzen - und das sieht man. Während in Rohrkrepierern wie dem letzten "Stirb langsam"-Streifen selbst Glassplitter am Rechner zusammengeklickt wurden, reißt einen das geerdete Gemetzel auf der "Fury Road" einfach mit. Der Film besteht letztlich aus wenig mehr als einer halsbrecherischen Tour voller Blut, Schweiß, Feuer und Benzin. Doch die sucht ihresgleichen - nicht umsonst überschlagen sich Kritiker und Fans in aller Welt schon jetzt angesichts dieser rohen Wucht und Dynamik.

Die mörderische Hatz durchs zerstörte down under kann sich also sehen lassen. Mit einer Einschränkung: Obwohl der Film ab 16 Jahren freigegeben ist, dürften auch hartgesottene Kinogänger das eine oder andere Mal schwer zu schlucken haben. Tatsächlich ist gar nicht besonders viel zu sehen, wenngleich bleiche Freaks und schmutzige Retter sich gegenseitig reihenweise ins Jenseits befördern. Aber das Kopfkino genügt ja manchmal - zwei, drei verstümmelte Zwerge und menschenverachtende Todesarten weniger hätten es eventuell auch getan. Andererseits macht gerade das den Reiz dieses unerwarteten Comebacks aus: Mad Max ist zurück. Konsequent, knallhart - und eben immer am Rande des Wahnsinns.

Macht acht von zehn dröhnenden Auspuffrohren für ein unterhaltsames Ende der Welt.

Mittwoch, 13. Mai 2015

Das Leben ist live II

Was man vor, neben und hinter der Bühne erleben kann:

18. April 1990: Zwei leicht verranzt aussehende Kerle schleichen sich auf die Bühne der Offenbacher Stadthalle. Sie nennen sich Storm, und ihre Musik klingt eher wie die Ruhe davor. Die Midnight-Oil-Fans warten gelassen auf ihre Band, ich freue mich über die akustische Version von "Every Breath You Take". Ein Liebeskummer-Song für mich.

16. Juni 1990: Auf dem heimischen Plattenteller dreht sich nicht nur, was im "Zillo" steht. John Mayall und Rory Gallagher verschaffen einen Blick auf eine Welt jenseits düster dräuender Gitarren. "Hey, lass uns das Blues-Konzert im KFZ besuchen", schlägt jemand vor. "Im was?", frage ich zurück. Eine Band namens Muddy Blues und Hannes Bauers Orchester Gnadenlos liefern den nächtlichen Soundtrack zum Beginn einer Freundschaft. Und ich meine nicht die mit dem Blues.

16. Februar 1991: "Denn mir sinn widder wer", singt Wolfgang Niedecken, und die Marburger BAP-Fans in der Stadthalle gröhlen mit. Ich bin ziemlich sicher, dass kaum jemand die Worte der Gäste vom Rhein versteht, geschweige denn ihre Intention. Aber es passt so schön: Wir sind wiedervereinigt, wir sind Weltmeister, wir sind wieder wer "zwesche Alpe un Meer". Da brüllt es sich leicht. Ich bin vermutlich der einzige, dem an diesem Abend aus anderen Gründen kalte Schauer über den Rücken laufen. Musik beginnt, ihre Unschuld zu verlieren. Von wegen, böse Menschen haben keine Lieder. Wollt Ihr das totale Brötchen? Und jetzt alle...

9. März 1991: Wiglaf Droste und Bela B. haben recht: Herbert kann nicht tanzen. Weil einer von uns ein Gipsbein hat, lassen uns die Türsteher der Hessenhalle in Alsfeld zu den Logenplätzen, und wir haben gute Sicht auf das Drama da unten. Grönemeyer gibt alles, lacht, schwitzt, "hospitalistisch, autistisch". Er rennt von einer Seite der Bühne zur anderen, um auf halber Strecke das Mikro zu greifen. Gar keine gute Idee. Der Mikroständer ist erstaunlich stabil, Herbert eher nicht. Geht zu Boden, lacht nicht mehr, schwitzt nur noch. "Kann nichts sagen - Angst." Bis er sich aufrappelt, spielt die Band stoisch weiter. Unter dem Jubel der Massen steht Grönemeyer schließlich wieder auf beiden Beinen, sein Scheitel wippt verlegen. "Alles total kaputt."

29. Mai 1991: Ich zitiere fast täglich aus Bob Geldofs Autobiografie. Liebe das aktuelle Album "Vegetarians Of Love". Und bin glücklich, dass der Meister mein Städtchen beehrt. Das Georg-Gaßmann-Stadion wird an diesem Abend zum riesigen Pub. Besser geht es kaum. Die Leser der Lokalpresse sehen das anders: In den Briefen an die Redaktion ist später tatsächlich von "Negermusik" die Rede. So stilsicher nörgelt der Marburger.

14. Juni 1991: Na klar - da bin ich einmal im Fernsehen, wenn "Live aus dem Schlachthof" aus Schönstadt überträgt, und dann kramen die Verantwortlichen ungefähr die peinlichsten musikalischen Gäste raus, die sie finden konnten. "Let Your Love Flow", singen die Bellamy Brothers. Für Uneingeweihte: Das ist das Original von "Ein Bett im Kornfeld". Und gewinkt habe ich auch nicht.

28. Juli 1991: Verbrannte Wiese, verbrannte Haut - dieser Sommer an der Themse ist die Hölle. Etwas Abkühlung verschafft das "Kilburn Irish Youth Festival". Unter anderem schleichen sich zwei leicht verranzt aussehende Musiker auf die Bühne. Der Name Storm passt noch immer nicht, ihre akustischen Lieder sind eher eine leichte Brise. Und "Every Breath You Take" ist längst kein Liebeskummer-Song mehr.

16. Februar 1992: "Mensch, ich lieb dich doch" heißt das Stück, das im Theater neben dem Turm zu sehen war. Nach der letzten Vorstellung findet am Afföller eine Party statt. Die ist leider nicht ganz so erlebenswert wie die Location. Also fahren wir rüber in die Robert-Koch-Straße zum Café Trauma, um uns eine Punkband aus Kalifornien anzugucken. Als wir ankommen, sind die drei Amis gerade bei den Zugaben. Unter anderem hören wir "Sweet Home Alabama".  Doch noch ein gelungener Abend. Danke, Green Day.

26. Oktober 1996: Das Mädel ist sauer. Sie wollte Fleischmann im KFZ sehen, aber die Herren Jackschenties. Hoffmann und Leeder haben entgegen der Präzision ihrer Musik nicht pünktlich angefangen. Deshalb ist ihr Auftritt nicht mal halb vorbei, als die Mahnung ihrer Mutter droht, die Zuschauerin nach Hause zu zwingen. Das Problem ist schnell gelöst. "Hat jemand ein Handy dabei?", fragt Norbert Jackschenties das Publikum. Karl vom Kulturladen-Team hat eins, und so ruft der Sänger und Gitarrist von der Bühne aus die Eltern des Mädchens an und bittet sie, ihre Tochter noch etwas länger verweilen zu lassen. Diese stimmen unter dem Jubel der Zuhörer zu. Und Fleischmann spielen weiter: "Alles ist gut - jetzt ist alles gut!"

16. Juni 2007: "Geh doch nochmal zurück", schlägt Jan vor. "Es gibt bestimmt ein oder zwei Kerle, die du noch nicht angerempelt hast." Ich erwäge kurz, diesem Rat zu folgen. Eine Massenschlägerei, die die MTV Campus Invasion sprengt - das wär's jetzt. Ich bin wütend, weil das Leben nicht fair ist. Weil es mir wenige Tage zuvor einen guten Freund genommen hat. Ausgerechnet Mando Diao schaffen es, dass ich wieder runterkomme. Dabei ist ihr Auftritt völlig zerfahren und ein bisschen kaputt. Wie ich an diesem Tag. Mach's gut, Pa. Ich mach mal weiter. Es gibt noch viel zu sehen und zu hören.

(Zum ersten Teil geht's übrigens hier entlang...)

Sonntag, 26. April 2015

Kino-Kritik: "Avengers: Age Of Ultron"

Es ist und bleibt ein einmaliges Phänomen in der Welt des Kinos: Das "Marvel Cinematic Universe" (MCU) startete als durchaus gewagtes Experiment und ist längst eine Geld-Druckmaschine. Daran dürfte auch der elfte Film, der in diesem ersten geschlossenen und immer komplexer werdenden Universum spielt, nichts ändern - vermutlich eher im Gegenteil. Denn die Fortsetzung von "Marvel's The Avengers" aus dem Jahr 2012 legt im Direktvergleich zum Vorgänger - dem dritterfolgreichsten Film aller Zeiten - in jeder Beziehung noch mal eine Schippe drauf. Es geht immer noch ein bisschen lauter, noch etwas bunter und erstaunlicherweise sogar noch besser.

Nachdem die zusammengewürfelte Heldentruppe eine Invasion durch Außerirdische verhindert und einige aufreibende Abenteuer als Solisten bewältigt hat, sind die Avengers eine etablierte Streitmacht gegen das Verbrechen in der Welt. Gemeinsam sind sie stark: Schon die beeindruckende Anfangssequenz zeigt, wie das Team zusammengewachsen ist, als Captain America (Chris Evans), Iron Man (Robert Downey jr.) und ihre Kollegen mit den Überresten der Terrororganisation H.Y.D.R.A. aufräumen. Dann jedoch hat Eisenmann, Milliardär und Genie Tony Stark eine verhängnisvolle Idee: Wie wäre es, wenn der Schutz der Menschen in die Hände eines Automatismus gelegt würde? Dr. Bruce Banner (Mark Ruffalo) hat Zweifel an Moral und Nutzen dieses Projekts. Und als es aus dem Ruder läuft, bekommt der gute Doktor mehr als einmal Gelegenheit, sich grün zu ärgern...

Fans der Comic-Vorlage und ihrer Verfilmungen bekommen, was sie erwarten: Ihre Superhelden kämpfen vereint gegen eine Übermacht, wobei jeder seinen grandiosen Auftritt hat. Das Finale ist eine epische Schlacht, in der die zwischenzeitlich zerstrittenen und von persönlichen Problemen gebeutelten Rächer beweisen müssen, wozu sie in der Lage sind, wenn sie zusammenhalten. Klingt bekannt? Nun ja, wenn man ehrlich ist, ist die Geschichte nicht gerade Lichtjahre von der des hochgelobten ersten Avengers-Abenteuers entfernt. Und doch funktioniert der Film, findet Regisseur Joss Whedon einmal mehr die richtige Balance zwischen krachiger Action, einer Portion Pathos und dem nötigen Humor. Dazu gibt es ungezählte Anspielungen auf die Vorgeschichte.

Zudem bringen neue Charaktere frischen Wind ins Geschehen, und der große Mythos im Hintergrund wird selbstverständlich auch noch etwas weitergedreht. Der Gegner der zänkischen Truppe ist diesmal die künstliche Intelligenz Ultron (im Original gesprochen von James Spader), ein so aggressiver wie unberechenbarer Despot mit vermeintlich ehrenwerten Zielen, der in Gestalt eines Roboters auftritt. Fast wie im Leben: Wer das Internet beherrscht, hat praktisch schon gewonnen - und Ultron ist buchstäblich überall. Da müssen die guten Jungs und Mädels auf der Gegenseite alles in die Waagschale werfen, was sie haben. Der Konflikt gipfelt ein einem Effektefeuerwerk, dass seinesgleichen sucht und selbst altgedienten Anhängern von Hollywood-Action den Kiefer nach unten klappen lässt.

Der Vollständigkeit halber (und um nicht nur die Nerds anzusprechen) sei erwähnt, dass die Schauspieler alle wissen, was sie tun. Längst ist das MCU bevölkert von preisgekrönten Mimen aller Klassen, denen klar ist, dass großes Kino manchmal genau das sein muss: verdammt groß.

Besser geht Unterhaltung eigentlich nicht. Dafür gibt’s völlig verdiente zehn von zehn abgerissenen Robot-Köpfen.

Mehr zum MCU gibt es hier und hier.

Montag, 20. April 2015

Herzensangelegenheiten

Neulich habe ich erfahren, dass es den Oberstadtflohmarkt noch gibt. Aber er sei mittlerweile sehr überschaubar und lohne kaum einen Besuch, sagte man mir. Schade. Früher war ja nicht nur manches besser, sondern auch einiges anders. Zum Beispiel war der Flohmarkt zwischen Heumarkt und dem unteren Ende des Steinwegs das "social event of the season", wie es in Kevin Smiths natürlich sehr empfehlenswertem Film "Clerks" über etwas ganz anderes heißt.

Seinerzeit ging es nicht nur um kaufen und verkaufen, sondern auch um sehen und gesehen werden. Zwischen Schatzkisten voller alter Bücher und Tapeziertischen mit lange gesuchtem Vinyl spielte einer Geige, ein anderer jonglierte, und man konnte sicher sein, jemanden zu treffen, mit dem man mindestens diesen ersten Samstag im Monat planen konnte. Einmal stand auch Thommes dort, spielte nicht Geige und jonglierte auch nicht, hatte aber einen großen Karton mit Band-Shirts dabei, dessen Inhalt er zu verkaufen suchte.


Thommes legte seinerzeit schon auf und wurde als nebenberuflicher DJ von Plattenfirmen gerne mal ein wenig verhätschelt. Diese hatte damals nämlich noch Geld, das sie mit dem Verkauf physischer Tonträger verdienten, und sie investierten es unter anderem in Werbeartikel wie Promo-CDs oder besagte T-Shirts ihrer Künstler. Thommes musste nicht lange auf Kundschaft warten. Eine kleine Frau mittleren Alters bot an, ihm den kompletten Karton abzukaufen, sofern er ihr einen guten Preis mache. Sie erklärte ihm sogar, was sie mit den Shirts vorhatte.

"Mein Mann arbeitet auf dem Bau", berichtete sie. "Und da schwitzt er immer so. Ich hab aber keinen Bock, ständig seine T-Shirts zu waschen. Und deswegen kaufe ich ihm jetzt einen ganzen Karton voll, die schmeißen wir dann einfach in den Müll, wenn sie durchgeschwitzt sind." Thommes ist grundsätzlich ein recht entspannter Mensch, aber das war ihm offenbar zuviel an verstörender Information. Fast verzweifelt nestelte er ein Tour-Shirt aus dem Berg, das anlässlich einer Spoken-Word-Reise von Henry Rollins hergestellt worden war. "Aber... das dann nicht, oder?", fragte er irritiert. "Doch – alle", antwortete die resolute Bauarbeiter-Gattin, lächelte und warf das Shirt zurück auf den Haufen.

Sie wurden sich handelseinig, und die Dame trug ihre Beute triumphierend vorbei an dem Jongleur und dem Geiger, den Bücherkisten und Plattentischen. Und so kam es, dass ein halbes Jahr lang ein Arbeiter auf irgendeiner Baustelle in Marburg jeden Tag ein anderes Band-Shirt trug: Fear Factory und Jamiroquai und Bad Religion und Henry Rollins. Es war eben nicht nur einiges anders, sondern auch manches besser. Auch der Oberstadtflohmarkt.

(Mehr zu Mr. Rollins findet sích übrigens hier.)

Sonntag, 15. März 2015

Kino-Kritik: "Kingsman: The Secret Service"

Neun Minuten und sechs Sekunden dauert die Albumversion des Songs "Freebird", den die Südstaatenrocker Lynyrd Skynyrd vor 41 Jahren aufgenommen haben. Wer nicht versteht, was das mit "Kingsman: The Secret Service", dem neuen Film von Regisseur Matthew Vaughn ("X-Men: Erste Entscheidung"), zu tun hat, oder sich fragt, wo der Zusammenhang zwischen rockenden Rednecks und britischen Gentleman-Spionen ist… der hat was verpasst.

Denn eine Szene - die nicht zuletzt durch ihre explizite, aber comic-haft überzogene Gewaltdarstellung durchaus ein bisschen Filmgeschichte schreiben dürfte - wird mit dem zweiten Teil dieses Liedes unterlegt. Quasi ein schier endloses Gitarrensolo als Soundtrack zu einem verstörenden, aber auch verstörend unterhaltsamen Gemetzel, das auf den Punkt bringt, worum es Vaughn und Drehbuchautor Mark Millar ("Kick-Ass") im Kern geht.

Doch der Reihe nach: "Kingsman" erzählt die Geschichte einer fiktiven Spionage-Einrichtung gleichen Namens, die ähnlich aufgebaut ist wie die legendäre Tafelrunde. Es gibt einen Boss mit dem königlichen Codenamen "Arthur" (eher nachlässig verkörpert von Michael Caine), einen technischen Experten namens "Merlin" (Mark Strong, der mal nicht den Bösewicht geben muss) und Agenten mit ritterlichen Spitznamen wie "Galahad". Letzterer wird gespielt von Colin Firth, der erwartungsgemäß die Idealbesetzung für die Rolle des leicht versnobten Superagenten ist.

Wann immer einer der ihren im Kampf für das Gute sein Leben lassen musste, erwählen diese modernen Ritter einen Novizen zum Mitglied ihrer verschworenen Gemeinschaft. Doch der Weg zum Vollzeitspion ist steinig, das muss auch der junge "Eggsy" Unwin (Taron Egerton) erfahren, ein Junge aus den Londoner Slums, der in "Galahad" nicht ohne Grund einen Mentor gefunden hat. Zusätzliche Komplikationen entstehen durch das Auftauchen des so sinistren wie wahnsinnigen Milliardärs Valentine (Samuel L. Jackson) und seiner beinamputierten, aber tödlichen Assistentin Gazelle (Sofia Boutella).

Das klingt alles ziemlich durchgeknallt? Ist es auch. Noch dazu schrillbunt, bitterböse, satirisch und zu keiner Sekunde langweilig. Wir sind schnell mittendrin in dieser irren Story zwischen Retro-Fimmel, Bond-Parodie und modernem Actionfilm. Es wird oft laut, Zeit zum Luftholen oder gar subtile Zwischentöne bleibt selten. Und doch merkt das geübte Auge sehr schnell, dass "Kingsman" voller liebevoller Details ist. Es hagelt nicht nur Kugeln, sondern auch Referenzen auf alles, was das Genre hergibt. (An einer Stelle zitieren sich Millar und Vaughn sogar selbst: Im luxuriösen Unterschlupf des Erzschurken hängt das gleiche Bild wie im Büro des Mafiabosses in "Kick-Ass", seinerzeit gespielt von Mark Strong.) Auch die eingesetzte Musik sitzt wie ein maßgeschneiderter Anzug - die erwähnte "Freebird"-Szene ist nur ein Beispiel von vielen.

Waren es in "Kick-Ass" die Superhelden, sind es diesmal die Topagenten, die damit klar kommen müssen, dass auch im Film-Universum nicht immer alles nach Plan verläuft. Denn beide Filme entsprechen zwar durchaus ihrem jeweiligen Klischee, die Gefahr für die Helden wirkt jedoch ungleich realistischer. Da wird öfter mal sehr blutig gestorben, und das ist dann überdreht inszeniert, aber auch sehr endgültig. Dort wie hier bekommen die Protagonisten viele Schläge ab, aber anders als Batman oder Bond spucken sie hinterher eben ihre Zähne aus.

Diese klassische Mark-Millar-Handschrift scheint auch durch, wenn trotz aller Lust an der Zerstörung bisweilen recht deutliche Kritik an unserem Umgang mit Gewalt geübt wird. Nochmal die "Freebird"-Szene: Man freut sich, jubelt gar, aber hinterher folgt die Ernüchterung. Darf man sowas gut finden? Der Zuschauer fühlt sich ertappt und gönnt sich ein Grübeln. Aber nur kurz, denn die wilde Jagd lässt wie erwähnt kaum eine Chance zur Besinnung.

Also: Es gibt reichlich Action, viel Klamauk, jede Menge Meta-Späßchen für Nerds und gute Musik. Ein Außenseiter hat die Messlatte für Popcorn-Kino höher gelegt. Und das in einem Jahr, das mit vergleichbaren Blockbustern nicht geizen wird. Well done, Gentlemen. Und die Krawatte sitzt.

Donnerstag, 12. März 2015

Herzensangelegenheiten

Eigentlich ist das Frühjahr denkbar ungeeignet, um Abschied zu nehmen. Aber erstens hat das Universum einen allgemein bekannt kranken Humor. Und zweitens ist eine Jahreszeit für Abschiede so gut geeignet wie die andere - nämlich gar nicht.

Es gibt unterschiedliche Gründe, die uns zum Abschiednehmen zwingen, und die allermeisten von ihnen sind naturgemäß unerfreulich. Das gilt insbesondere dann, wenn Abschiede endgültig sind. Unter diesen Gründen nimmt einer eine Sonderstellung ein, übertrifft an kalter Härte selbst seine kleinen Brüder, den Streit und die Veränderung. Die Rede ist selbstverständlich vom Tod. Mir ist niemand persönlich bekannt, der ein allzu großer Anhänger oder gar Befürworter des Todes ist. Im Gegenteil: In unseren Breitengraden pflegen wir ihn im Allgemeinen mit Missachtung zu strafen - eine vergleichsweise harmlose Waffe, denn uns allen ist klar, dass der Tod ein unbesiegbarer Gegner ist. Noch dazu ein sehr gelassener, er kann nämlich warten. Er hat quasi reichlich Zeit, was kein Wunder ist, denn er nimmt sie von uns allen. Die Zeit, noch schnell zu erledigen, was wir viel zu lange vor uns hergeschoben haben. Die Zeit, endlich das Richtige zu tun, worauf wir ein Leben lang gewartet haben. Die Zeit, die wir mit schönen Dingen und netten Leuten verbringen sollten und doch auf ganz andere Art vergeuden.

In den Romanen von Terry Pratchett (der in diesen Tagen gestorben ist) wird der Tod als klassischer Sensenmann karikiert, allerdings oft genug gebeutelt von fachfremden Emotionen und den Problemen seines sicher stressigen Alltags. Und Schauspieler Leonard Nimoy (der kurz zuvor das Zeitliche segnete) sagte in seiner bekanntesten Rolle gern und häufig: "Lebe lang und in Frieden." Ein wohlmeinender Wunsch, vielleicht gar ein frommer, aber wie die meisten Wünsche dem Mann mit der Kapuze vermutlich nicht einmal ein schiefes Grinsen wert. Denn über die Dauer unseres Daseins entscheidet nur  er. Oder (um es endlich mal etwas realistischer auszudrücken): Wir haben kaum Einfluss darauf.

Manchem gelingt es zwar, sein Leben künstlich zu verlängern. Andere entscheiden sich traurigerweise, es zu verkürzen. Aber am Ende bleibt immer ein Abschied, für jene, die zurückbleiben, meist schmerzlicher als für den, der geht.

Wer inzwischen völlig zurecht fragt, was das alles mit Musik zu tun hat, der sei auf ein paar Zeilen zweier Liedtexte aufmerksam gemacht. "No one wins, but somehow they still play", heißt es in "Future Days" von Pearl Jam. "All the missing crooked hearts, they may die, but in us they live on." Deutlich pessimistischer sehen das Fury In The Slaughterhouse: "Today you're their best friend, but believe me tomorrow they don't even know your name." Ganz so ohne sind Todes kleine Brüder nämlich doch nicht.

Wer nun verständlicherweise nicht nur nach dem Zusammenhang zum Thema Musik, sondern gar nach einer Moral fragt, dem sei ins Poesiealbum gekritzelt: Die Zeit läuft - macht was draus. Am besten übrigens wirklich mit schönen Dingen und netten Leuten. Es ist Frühjahr, Freunde. Aber nicht mehr lange.

Donnerstag, 1. Januar 2015

Mein Dogma (III)

"Der Markus sagt immer, was er denkt. Das schätze ich so an ihm." Mit diesen Worten versuchte meine Tante vor ein paar Jahren, einen massiven Eklat während einer Familienfeier zu relativieren. Der erste Satz war die Wahrheit, der zweite nicht.

Tatsächlich bin ich immer ehrlich. Oder um ehrlich zu sein: Ich versuche es, so gut ich kann. Manchmal fragt man mich, weshalb ich das tue. (Ich selbst frage mich das nie, aber dazu kommen wir noch.) Häufig antworte ich dann wahrheitsgemäß, dass ich nicht mal verstehe, weshalb man diese Frage überhaupt stellt. Denn eigentlich sollte Standard sein, was mir zwar nicht einfach erscheint, aber inzwischen selbstverständlich: Unehrlichkeit ist mir seit jeher zuwider, mit Lügen kann ich nicht umgehen. Ob das eine Frage der Erziehung ist (mein Vater war oft ehrlich bis zur Schmerzgrenze - auch dazu kommen wir noch) oder ob das Leben mich geprägt hat, ist gleichgültig. Ich habe Gründe, am liebsten die Wahrheit zu sagen, und es sind gute Gründe.

Worte können noch mehr verletzen als Schläge. Und das ganz besonders, wenn man nicht mit ihnen rechnet. Wenn man glaubt, einen anderen Menschen zu kennen (oder zumindest seine Eigenschaften), er dann aber aus heiterem Himmel eröffnet, nicht ehrlich gewesen zu sein, bricht einem das nicht die Nase, aber ziemlich sicher das, was medizinisch Ungebildete als "Herz" bezeichnen. Das hat niemand verdient. Stattdessen verdient jeder ein Mindestmaß an Respekt, auch in Auseinandersetzungen. Und das bedeutet: Jeder Mensch verdient die Wahrheit.

Auch die Wahrheit kann verdammt schmerzhaft sein, sie kann ebenfalls das "Herz" brechen. Aber nichts ist so unumstößlich wie die Realität. Sie ist ein Hindernis, auf das wir alle früher oder später stoßen. Mit dem wir alle leben müssen. Das ist die eben Wahrheit. Akzeptiert sie und lernt, damit umzugehen. Alles andere wäre verlogen.

Das heißt nicht, dass Hoffnung eine Lüge ist. Die Realität kann sich verändern, sie tut das in jeder Minute unseres Lebens. Aber man kann nur dazu beitragen, wenn man sie kennt. Wenn man die Wahrheit kennt und nicht einer Lüge glaubt.

Auf Lügen zu verzichten und ehrlich zu sein, ist nicht einfach. Tatsächlich ist es sogar verdammt schwer. Ehrlichkeit beginnt bei kleinen, alltäglichen, oft achtlosen Fragen wie etwa: "Na, wie geht's?" Die meisten antworten ebenso achtlos: "Ganz gut." Aber das stimmt nicht immer. Häufig genug geht es ihnen schlecht, manchmal sogar beschissen. Wer mir diese Frage stellt, bekommt in der Regel eine ehrliche Antwort, und die hängt eben von der Tagesform ab. Generell habe ich kein Problem damit, recht klar und deutlich zu sagen, was ich von jemandem oder von einer Sache halte, und das betrifft eben auch mein persönliches Lebensgefühl. Das Ergebnis ist etwas, mit dem ehrliche Menschen leben müssen: Wer nicht einstimmt in den heuchlerischen Chor der Glücklichen gilt früher oder später als latent deprimiert. Das bietet reichlich Gelegenheit für Spott und Kritik aller Art. Ihr wollt nicht lügen? Dann findet euch damit ab, dass das nicht jeder gut findet. Auch das ist die Wahrheit. Und betrifft im Übrigen größere Fragen noch mehr als die beispielhaft geschilderte kleine.

Mein Vater hatte nicht zu Unrecht den Ruf, ein ziemlicher Choleriker zu sein: Wenn ihm etwas nicht gepasst hat, ist er aufgestanden und hat das gesagt, häufig sehr laut. (In jungen Jahren hat er weniger geredet und mehr gehandelt, aber das ist im Fall einer physischen Konfrontation nun wirklich nicht immer die beste Lösung.) Ich habe ganz sicher viele Charaktereigenschaften von ihm geerbt, und Ehrlichkeit gehört - neben einigen weniger positiven - dazu. Das bringt mir den Ruf ein, nicht gerade der geborene Diplomat zu sein. Wer es gut meint, benutzt auch gern mal das Wort "verschroben". Auch damit muss klar kommen, wer sich für den Weg der Wahrheit entscheidet. Menschen werden euch vorwerfen, sie vor den Kopf zu stoßen, obwohl ihr doch genau das vermeiden wollt. Weil sie in unserer Gesellschaft die Wahrheit schon fast nicht mehr gewohnt sind.

Wer ehrlich sein will, sollte das in erster Linie zu sich selbst sein. Das ist der schmerzhafteste Teil dieser Philosophie. Kein Mensch wird euer ganzes Leben bei euch sein - nur ihr selbst. Ihr wart allein, als der Doktor euch auf den Hintern gehauen hat, ihr werdet allein sein, wenn ein anderer Doktor das Beatmungsgerät ausschaltet. Und zwischendurch, wenn ihr durch den Regen lauft, euch das Kissen auf die Ohren drückt oder ihr auf dem Klo sitzt, seid ihr ebenfalls allein. Auch das ist die Realität, auch das ist die Wahrheit. Also fangt besser so früh wie möglich damit an, mit euch klar zu kommen. Seid ehrlich - nicht nur zueinander, sondern vor allem zu euch selbst. Das ist wirklich nicht immer ganz leicht, häufig sogar schwieriger als gegenüber euren Mitmenschen, aber es lohnt sich. Die Wahrheit ist nämlich nicht irgendwo da draußen, sie ist erstmal in uns selbst.

Seit etwas mehr als zwölf Jahren bin ich nicht nur ehrlich, sondern bin das ganz bewusst. In dieser Zeit habe ich Freunde verloren, die offenbar keine waren, habe Streitigkeiten provoziert, die ich hätte vermeiden können, und hatte mehr als einmal ziemlichen Ärger. Aber ich habe auch Freunde behalten, von denen ich weiß, dass sie bleiben werden. Und ich habe gelernt, dem Kerl, den ich morgens im Spiegel sehe, zu vertrauen. Ich bin noch immer kein Riesenfan von ihm, aber er ist eine ehrliche Haut, und das mag ich an ihm wie an anderen Menschen.

Deswegen drücke ich auch ein Auge zu, wenn er mal wieder nicht ganz so ehrlich ist wie geplant. Wenn er eine hundertmal erzählte Geschichte beim 101. Mal ein wenig ausschmückt, um ein paar Lacher zu ernten. Wenn selbst ein Quatschkopf wie er ab und an schweigt, wenn er reden sollte, weil er eben doch manchmal Angst vor der Wahrheit hat. Oder wenn er ein-, vielleicht zweimal im Jahr eine Konfrontation scheut, obwohl er weiß, dass er das später bereuen wird.

Immerhin versucht er wenigstens, die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen. Ganz ehrlich. Und das schätze ich an ihm. Solltet ihr auch mal versuchen.