Sonntag, 21. Dezember 2014

Auf den letzten Drücker - schräg unterm Weihnachtsbaum

Langsam wird's Zeit, die letzten Geschenke für die Lieben zu besorgen. Wer schnell bestellt oder sich tapfer durch den Einkaufswahnsinn schlägt, hat noch eine Chance, was zu ergattern. Und wer seinen Beschenkten wirklich etwas Gutes tun will, packt ihnen was zum Gucken unter den Baum. Am besten etwas, das noch nicht jeder gesehen hat und das ein wenig schräg ist. Denn schräg ist gut - der Schlitten vom Weihnachtsmann steigt ja auch nicht gerade in die Lüfte. Hier sind sie also, die 20 schrägsten Film-Geschenktipps (nicht nur zum angeblichen Fest der Liebe):

Blutgletscher (Österreich, 2013): In den Alpen tut sich was - eine Forschergruppe bekommt es mit den monströsen Auswirkungen der Klimakatastrophe zu tun. Erfreulich handgemachter Tier-Horror mit klassischem Verlauf, aber Fabelwesen, die man so noch nicht gesehen hat. In den Bergen hört dich niemand schreien…

Bubba Ho-Tep (USA, 2002): Elvis Presley (Bruce Campbell) ist nicht tot, sondern lebt im Altenheim, wo ihm allerdings niemand glaubt, dass er der King ist. Als sich eine Mumie durch die Gänge metzelt, ist er froh, den angeblichen John F. Kennedy (Ossie Davis) an seiner Seite zu haben. Klingt bizarr? Ist es auch. Und sehr unterhaltsam - wenn man Gruselgeschichten lustig mag.

Coffee And Cigarettes (USA, 2003): Wo Jim Jarmusch draufsteht, ist auch Jim Jarmusch drin. So richtig viel passiert eigentlich nicht in diesem Episodenfilm. Aber die Dialoge sitzen, ebenso die Kamera. Außerdem sind Steve Buscemi, Tom Waits, Iggy Pop und die White Stripes an Bord. Eine eher ruhige Kreuzfahrt für erfahrene Seeleute, mit einer ganz besonderen Atmosphäre.

Das ist das Ende (USA, 2013): Mehr Metaebene geht kaum, wenn sich eine Gruppe Komiker (darunter Seth Rogen, Jonah Hill und James Franco) mit nichts weniger als der Apokalypse konfrontiert sieht. Natürlich spielen die überforderten Dauerkiffer sich selbst, natürlich gibt es ein glückliches Ende. Aber eins, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und nie wieder sehen wird.

Fraktus (Deutschland, 2012): Wir alle erinnern uns an Fraktus, jene legendäre Band, die in den 80ern Musikgeschichte geschrieben hat. Und falls nicht, könnte das daran liegen, dass es dieses Trio nie gegeben hat. Was schade ist, denn Rocko Schamoni, Heinz Strunk und Jacques Palminger zeigen uns in dieser Fake-Doku, dass wir einiges verpasst haben.

The Host (Südkorea, 2006): Was da aus dem Wasser steigt, ist so hässlich wie hungrig. Und eine überforderte Familie ist dem mutierten Ungetüm als Gegner nicht gerade ebenbürtig. Die Story ist wendungsreich und ungewöhnlich, die Spezialeffekte haben absolutes Hollywood-Niveau. Beides macht diese Mischung aus Mutantenhatz und Komödie sehr sehenswert.

Kick-Ass (USA, 2010): Warum hat sich eigentlich noch niemand wirklich als Superheld versucht? Teenager Dave Lizewski (Aaron Johnson) findet es schnell heraus: Weil es verdammt schmerzhaft ist. Ambitionierte Comicverfilmung, zu gleichen Teilen spannend und brutal wie lustig und dramatisch. Der etwas andere Superhelden-Film tritt tatsächlich in den Hintern.

Kontroll (Ungarn, 2003): In den dunklen Schächten des U-Bahn-Systems entspinnt sich eine surreale Geschichte, in der ein eigenbrötlerischer Kontrolleur, ein Mädchen in einem Bärenkostüm, ein notorischer Schwarzfahrer und ein geheimnisvoller Killer eine Rolle spielen. Inszeniert wurde das moderne Schauermärchen als experimentelles Mosaik mit Liebe zum Detail.

The Last Supper (USA, 1995): Wenn man einer Gruppe Studenten dabei zusieht, wie sie - zunächst eher versehentlich - diverse konservative Hausgäste um die Ecke bringt, sollte man ein Faible für schwarzen Humor haben. Mit Cameron Diaz, Annabeth Gish, Ron Perlman, Bill Paxton und anderen ist diese leckere Farce durchaus prominent besetzt. Auch das waren die 90er.

Living In Oblivion (USA, 1995): Regisseur Nick Reve (Steve Buscemi) will doch nur eins - diesen verdammten Film fertigdrehen. Leider kommen ihm dabei selbstverliebte Schauspieler, eine unfähige Crew, seine verwirrte Mutter und sein eigener Anspruch in die Quere. Ein Film im Film. Das fordert die Hirnzellen, in erster Linie aber die Lachmuskeln. Und ist dabei wunderbar absurd.

Monsters (USA, 2010): Die Liebe in den Zeiten der Alien-Invasion - ein Fotograf soll die Tochter seines Verlegers aus einer abgeriegelten Zone bringen, in der sich fremde Lebensformen eingenistet haben. Wer ein krachiges Spektakel erwartet, liegt komplett daneben. Das ist ein ruhiger Film voller Gefühl und unterschwelliger Spannung. Und mit wenigen Monstern.

My Name Is Bruce (USA, 2007): Bruce Campbell (Bruce Campbell) hat seine besten Tage hinter sich. Und selbst die reichten allenfalls aus, ihn zum Kultstar für cineastische Nerds zu machen. Als er aber tatsächlich gegen einen dämonischen Samurai antreten soll, wächst er über sich hinaus. Oder auch nicht. Launige Horrorkomödie voller popkultureller Anspielungen.

Pakt der Wölfe (Frankreich, 2001): 1767 kommen in der französischen Provinz Gévaudan immer wieder Menschen unter mysteriösen Umständen ums Leben. Forscher Grégoire de Fronsac (Samuel Le Bihan) und Irokese Mani (Marc Dacascos) gehen der Sache nach. Regisseur Christophe Gans wirft Horror, Krimi, Martial Arts und Kostümdrama zusammen - und es passt.

Rare Exports (Finnland, 2010): Wer diesen film gesehen hat, sieht Weihnachten künftig mit anderen Augen. In Lappland werden Waldarbeiter mit dem wahren Weihnachtsmann konfrontiert. Und der hat schlechte Laune. Ob man ihn fangen und verkaufen kann? Die spinnen, die Finnen - die Langfassung des (fast) gleichnamigen Kurzfilms ist atmosphärisch und humorvoll.

Rogue - Im falschen Revier (Australien, 2007): Eine Flussfahrt down under nimmt für eine Touristengruppe eine unangenehme Wendung, als ein riesiges Krokodil etwas gegen seinen Appetit tun möchte. Neben Haien müssen Krokodile seit Jahrzehnten als Antagonisten in billigen Schockern herhalten. Dieser Film jedoch ist anders. Nämlich spannend und verdammt gut gemacht.

Severance (Großbritannien, 2006): Ein Betriebsausflug nimmt einen blutigen Verlauf. Da ist es gut, dass die Bürogemeinschaft ohnehin etwas für ihr Zusammengehörigkeitsgefühl tun wollte. Nur: Ohne Kopf ist das schwierig… Es geht handfest zur Sache in dieser typisch britischen Survival-Story. Und gleichzeitig ist die absurde Situationskomik saulustig. Stromberg für Splatterfans.

Thale (Norwegen, 2012): Als zwei Tatortreiniger (!) in den norwegischen Wäldern eine junge Frau entdecken, die offenbar eine skandinavische Sagengestalt ist, erfahren sie, dass manche Mythen wahr sind. Und als sich das Militär einmischt, lernen die Soldaten, dass Märchenwesen sehr sauer werden können. Knorrig, karg und kühl gefilmte Gruselmär - ideal für die Winterzeit.

Trollhunter (Norwegen, 2010): Es ist ein harter Job, aber einer muss ihn ja machen. Da ist der wortkarge Hans (Otto Jespersen) genau der richtige Mann. Hans beschützt uns vor den Trollen. Die gibt es nämlich wirklich, wie ein junges Kamerateam am eigenen Leib zu spüren bekommt. Souverän produzierter Found Footage-Film mit reichlich Atmosphäre statt Ekelszenen.

Vidocq (Frankreich, 2001): Gérard Depardieu spielt Eugène Francois Vidocq, einen ehemaligen Kriminellen, der als erster Privatdetektiv der Welt gilt. 1830 jagt der französische Sherlock Holmes in dieser fiktiven Geschichte einen geheimnisvollen Mörder, der sich "der Alchemist" nennt. Seine ungewöhnliche Optik hebt diesen Abenteuer-Krimi von der Masse ab.

Wächter der Nacht (Russland, 2004): Seit Urzeiten bekämpfen sich die Mächte des Lichts und der Dunkelheit. Doch wer ist gut, wer böse? Anton (Konstantin Chabenski) weiß es nicht. Er erledigt nur seinen Job, indem er im Moskau der Neuzeit Vampire jagt. Und wie er das tut, kann sich sehen lassen. Die Spezialeffekte sind beeindruckend, die Story voller Bezüge zum Umbruch im Osten.

Mein Kinojahr 2014

Es war ein gutes Jahr für Kinofreunde - darin sind sich Fachleute, Feuilletonisten und Fans ungewohnt einig. Wer nicht auf Autorenfilme steht, sondern noch immer der Traumfabrik huldigt, bekam ordentlich was auf die Augen. Und das - anders als in den vergangenen Jahren - weniger in quantitativer, dafür mehr in qualitativer Hinsicht.

Fünf Filme sind es, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Die es geschafft haben, mich für mindestens zwei Stunden aus der Realität zu ziehen. Denn das ist der Grund, warum ich das Kino liebe.

Man durfte ruhig ein wenig argwöhnisch sein, als bekannt wurde, der beliebteste Bürohengst der Republik solle seinen Schlusspunkt auf der Leinwand setzen. Denn diese ist kein Fernsehschirm, und eine Serie als Kinofilm umzusetzen, ist mehr als einmal in die Hose gegangen. Doch "Stromberg - der Film" macht alles richtig. Er nutzt das andere Medium, ohne die Stimmung zu verändern. Der "Papa" funktioniert auch in groß, zumal ungezählte Anspielungen auf alte Serienfolgen den Abschluss nicht nur zu einer runden Sache machen, sondern schlicht grandios. Weiterer Pluspunkt: Strombergs Finale ist bitterböse Satire. Da bleibt einem auch mal das Lachen im Hals stecken.

Nur manchmal lustig ist "Das erstaunliche Leben des Walter Mitty". Und das trotz (oder wegen) seines Hauptdarstellers Ben Stiller. Man sollte vielleicht nicht soweit gehen, die Dramödie um einen stillen Verlagsangestellten, der allen Mut zusammen nimmt und die Welt entdeckt, als das "Philadelphia" des "Verrückt nach Mary"-Tollpatschs zu bezeichnen. Aber zumindest ist der Mann diesmal so wenig Ben Stiller wie sonst nur als Gast in "Wetten, dass..?". Allein das und die großartigen Aufnahmen machen den Film sehenswert. Hinzu kommt eine optimistische, Mut machende Stimmung, die noch lange nachhallt.

Eher was für zwischendurch, aber durchaus eine Überraschung war für mich Denzel Washingtons Neuverfilmung von "The Equalizer". Ähnlich wie "Wer ist Hanna?" passt er wohl am besten in die fast leere Schublade mit der Aufschrift "Arthouse-Action". Einerseits gibt es sehr ruhige, fast meditative Szenen, die wunderbar gefilmt sind, andererseits fährt zwischendurch immer wieder brutale Gewalt wie ein Blitz dazwischen. Mehr als einmal ertappt man sich dabei, dass man denkt: "Ouh - muss das sein?" Selbstjustiz-Thriller sind eben nicht jedermanns Sache. Doch letztlich ist es die alte Hollywood-Geschichte vom einsamen Rächer, der allein mit den bösen Buben aufräumt. Diesmal halt mit ungewöhnlichen Kameraperspektiven und guten Darstellern.

Unfassbar, was in Sachen Computeranimation inzwischen möglich ist. Die titelgebenden Primaten in "Planet der Affen: Revolution" sehen tatsächlich noch beeindruckender realistisch aus als im ersten Teil. Glücklicherweise behält die Fortsetzung des Prequels, das ein Reboot ist (!), das Erzähltempo des Vorgängers bei und setzt nicht nur auf Schauwerte. Die Geschichte vom Konflikt zwischen Menschen und Affen, die nach einer verheerenden Katastrophe um die Vorherrschaft auf der Erde kämpfen, ist voller clever eingesetzter Metaphern und packender Szenen - erstaunlicherweise vor allem in den nicht seltenen ruhigen Momenten. Klar: Es kracht bisweilen ordentlich. Aber wir haben hier nicht nur einen guten Science-Fiction-/Actionfilm, sondern einfach einen guten Film.

Ich hatte es gehofft und wurde nicht enttäuscht: "Guardians Of The Galaxy" ist verdammt gute Unterhaltung, selten mehr und niemals weniger. Kein Film hat es in diesem Jahr geschafft, mich so in seinen Bann zu ziehen, wie das durchaus gewagte Weltraum-Abenteuer aus dem Hause Marvel. Gewagt, weil nicht zwingend damit zu rechnen war, dass mittlerweile auch die Comic-Helden aus der dritten Reihe beachtlichen Erfolg auf der Leinwand haben. Haben sie aber. Und man schließt sie sofort ins Herz, diese schrägen, vom Leben gezeichneten Außenseiter, die eher auf Umwegen das Universum retten. Wäre ich 30 Jahre jünger, wäre das mein "Star Wars" - trotz eines Plus an augenzwinkernden Humors, den George Lucas ja nie konnte. Und der Soundtrack - eine krude Sammlung meist furchtbarer 70er- und 80er-Jahre-Pop-Nummern - ist derart grandios, dass er in jeden guten Haushalt gehört!

Sonntag, 14. Dezember 2014

Lieber ein Ende mit Schrecken…

Das war's dann. Das Ende der angeblich letzten großen Samstagabendshow. In den folgenden Tagen werden sich die Feuilletonisten schwitzend die Hirnwindungen trocken drücken, um auch wirklich ganz sicher sämtliche Wortspiele mit "Lanz", "Wetten" oder "Flieger" ins Netz und aufs Papier zu kriegen. Allein: Der Grund dafür ist die Mühe nicht wert.

Furchtbar war sie, die letzte "Wetten, dass..?"-Sendung - nicht vor der Sommerpause oder den Malle-Außendrehs, sondern glücklicherweise für immer. Und zwar im Wortsinn, denn voller Furcht wartete man darauf, dass sich Markus Lanz mit Wonne ins nächste Fettnäpfchen warf. Auch Fremdscham ist nämlich nur in kleinen Dosen zu ertragen. "Lanz" ist jedoch längst die Maßeinheit, in der eine Überdosis gemessen wird. Andererseits macht es natürlich Spaß, auf ein leichtes Ziel zu ballern. Haben wir auch getan, auf Twitter, wo Hashtags wie #lanzchristmas die Runde machten. Und zwar nicht wegen der "verdammten Klickzahlen" (Markus Lanz über das Internet), sondern weil dieser Mist eben nicht "sehr, sehr vielen Menschen Freude macht" (Markus Lanz über die Show, die er an die Wand gefahren hat). Der Mann hat es verdient, öffentlich angegriffen zu werden, voller Bosheit und Zynismus, weil er es wagt, seine Arroganz in eben diese Öffentlichkeit zu tragen.

Wie war er denn nun, der Abgesang auf eine angebliche Ära? Es folgt keine detaillierte Analyse, kein hämisches Sezieren all der schlimmen Dinge, mit denen diese letzte Sendung nicht eben geizte. Es sei vielmehr auf drei Punkte hingewiesen, an denen sich das Grauen, mit dem das Zweite uns fortan zu verschonen gedenkt, festmachen lässt:

1. Ben Stiller. Der Gute ist Komiker und hat das Pech, ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit den dritten Teil seiner familientauglichen Schenkelklopfer-Reihe "Nachts im Museum" ins Kino zu bringen. Gut für den Geldbeutel, schlecht für die Abendgestaltung. Denn um einen neuen Film zu bewerben, muss man in der alten Welt durchs Fegefeuer, und das befindet sich ziemlich exakt auf jener Couch, auf der in den vergangenen drei Jahrzehnten schon so mancher Hollywoodstar vor sich hin dämmerte. Man kann Stiller indes nicht vorwerfen, gute Miene zum bösen Spiel gemacht zu haben. Ob Tom Hanks oder Will Arnett ihn nun gewarnt haben oder nicht - seine Art, mit der irritierend gackernden Gruppe euphorisierter Unbekannter umzugehen, in deren Mitte er ausharren musste, bis das eingangs erwähnte Sicherheitswort "Flieger" fiel, war folgende: Er tat einfach nichts. Mit versteinertem Gesichtsausdruck und ohne den Versuch, das klassische amerikanisch-oberflächliche Grinsen zu imitieren, ließ er die Sendung an sich vorbeiziehen. Nur einmal lachte er, es wirkte sogar ehrlich und von Herzen. Das war, als er fliehen durfte. Es ist davon auszugehen, dass er zur Garderobe gerannt ist, ohne sich umzudrehen.

2. Die Musik. Die Fantastischen Vier haben immer gute Laune (zumindest drei Viertel von ihnen), und man nimmt es ihnen sogar ab. Es war ihnen ganz offensichtlich wurscht, dass sie gerade der allerletzten "Wetten, dass..?"-Ausgabe beiwohnten. Das macht sie noch sympathischer. Deswegen soll es an dieser Stelle auch um zwei andere musikalische Gäste gehen. Um noch einmal zu verdeutlichen, wie wenig ihnen das einstige Flaggschiff auf den letzten Metern noch am Herzen liegt, hatten die Verantwortlichen nämlich das Langweiligste und Konformste eingeladen, was aufzutreiben war: Engelchen und Teufelchen. Die Bundes-Helene hauchte irgendwas Festliches, das klang wie "Atemlos" nach einer großen Packung Valium, also noch grauenhafter. Und der Graf (c) gab ganz zum Schluss den Rauswerfer, mit der gewohnten Gothic/Schlager-Grütze, die sich natürlich anhörte wie sein Hit, sich aber irgendwie um Abschied drehte. Er hört nämlich ebenfalls auf. Halleluja.

3. Samuel Koch. Es fällt schwer, in Worte zu fassen, was in einem wühlte, als Lanz den querschnittsgelähmten Schauspieler... nein, eben nicht interviewte. Er führte ihn vor. Man war wirklich froh, dass er ihn nicht bat, doch mal rasch zu demonstrieren, was er noch alles kann, weil doch bald Weihnachten ist und das sehr, sehr vielen Menschen Freude machen würde und so. Oder um zu zeigen, dass es halb so wild ist, wenn man nach einer misslungenen Wette im Rollstuhl sitzt. Ist doch alles nur Spaß. Koch reagierte souverän, verwies darauf, dass Lanz sich zweimal nach seinem Gesundheitszustand erkundigt habe, und fragte zurück: "Und selbst?" Kurz: Wenn Til Schweiger neben einem sympathisch wirkt, macht man als Moderator etwas falsch und nicht sehr, sehr vielen Menschen Freude. Es fragt sich, weshalb die Produzenten einen Trampel wie Markus Lanz Slalom laufen lassen. Absicht? Bösartigkeit? Hat gar jemand hinter den Kulissen abgeklatscht, als er dem sehbehinderten Wettkandidaten eine Sichtschutzbrille aufdrängte? Da hatte Koch ja fast Glück. Dafür, dass er genau das ausstrahlt, hat er übrigens den stehenden Applaus durchaus verdient.

Nach einer zähen letzten Wette und dem so verzweifelten wie vergeblichen Bemühen, etwas pathetische Abschiedsstimmung aufkommen zu lassen, erwähnte Lanz vor dem Unheilig-Auftritt noch einmal jene "Ära", die nun Ende sei. Als ob so etwas immer ein Grund zur Trauer wäre. Der Eiszeit oder dem finsteren Mittelalter hat bestimmt auch niemand nachgeweint.

Dienstag, 9. September 2014

Herzensangelegenheiten

Manchmal erwischt es einen aus heiterem Himmel. Schlägt in den Hinterkopf ein und bleibt dort eine Weile. Man wird ihn nicht los, den Ohrwurm - oder besser: das Lieblingslied.

Andererseits: Obwohl es sich im Kopf abspielt (im Wortsinn), spielt der eigentlich keine Rolle. Es ist weniger der Verstand, sondern mehr das Herz, das sich mit dem Song beschäftigt. In der Birne drehen wir den Refrain hin und her, die Lippen singen leise den Text mit, aber die Melodie hat unsere Seele im Griff.

Woher der Blitz kommt, ist auch in unserem aufgeklärten Zeitalter übrigens noch völlig unerforscht. Zwar beschäftigen sich Musikwissenschaftler und Psychologen seit Jahrzehnten mit diesem Phänomen, aber Antworten auf diese ohnehin relativ irrelevante Frage haben sie nicht. Nehmen wir doch einfach hin, dass es plötzlich da ist, das Lied. Vielleicht entstammt es einer Erinnerung oder einem Traum, vielleicht lief es irgendwann irgendwo im Hintergrund, und wir haben es gar nicht beachtet. Wichtig ist nur: Es ist da, und es geht erstmal nicht wieder weg.

Glücklich sind jene, bei denen tatsächlich ein neues oder altes Lieblingslied durchs Unterbewusstsein spukt und kein aggressives Melodiemonster aus der Hölle. Dann nämlich frisst sich der Ohrwurm weiter bis in die Eingeweide, wo er bestenfalls Brechreiz auslöst. Bleiben wir also lieber bei der positiven Variante.

"She'll turn her music on you, you won't have to think twice", raunt gerade völlig richtig eine Stimme in mir, die das Feuilleton als "Reibeisenstimme" bezeichnen würde. Ich umgehe mal solche Phrasen aus meiner beruflichen Vergangenheit und umschreibe es lieber: Eine tolle Stimme ist das, von einer Frau, die offenbar gelebt und erlebt hat, sie klingt selbstbewusst, standhaft und sexy. Von Kim Carnes - so heißt die Sängerin - wusste ich bislang nur, dass sie in den 70ern und 80ern als attraktive Blondine galt und streng genommen ein One Hit Wonder ist. "Bette Davis Eyes" hat es auf manche Sammlung von "Rock-Klassikern" (noch ein Begriff aus dem Kulturseiten-Phrasengiftschrank) geschafft, weil das Lied Anfang der 80er ein weltweiter Hit war.

Mir fällt spontan keine Frau ein, deren Augen ich mit denen von Bette Davis vergleichen würde. Trotzdem summe ich die Melodie seit zwei Tagen vor mich hin, und wenn ich allein im Auto sitze, singe ich zumindest den Refrain mit. In Gesellschaft geht das nicht, denn meine Stimme klingt nicht selbstbewusst, standhaft und sexy, sondern scheiße. (Obwohl auch ich gelebt und erlebt habe.)

"She'll take a tumble on you, roll you like you were dice." Gern. Zumindest ein paar Tage lang. Bis es wieder blitzt.

Montag, 18. August 2014

Herzensangelegenheiten

"Wir müssen reden", sagt Sven Regener und hat offensichtlich bereits damit angefangen. "Finde ich nicht", sage ich und sehe nicht von meiner Zeitung auf. (Manchmal lese ich Zeitungen.) "Ich habe vor, meine Grenzen auszuloten", höre ich hinter dem bewusst lauten Rascheln der gedruckten Nachrichten, "denn Stillstand ist Rückschritt." Ich ärgere mich darüber, dass er einfach weiterspricht, noch mehr aber stört mich der gewohnt phrasenlastige Inhalt des Gesprochenen. Am meisten jedoch macht mich sauer, dass ich nun tatsächlich wissen will, was zur Hölle mein Mieter damit meint.

"Ziehst du aus?", frage ich daher, ohne jede Hoffnung auf eine positive Antwort. "Was? Nein. Keine Sorge." Sven Regener meint das ernst. Er meint fast alles ernst. "Aber ich will ein bisschen über den Tellerrand gucken. Auch musikalisch. Und mich interessiert, was du davon hältst." "...weil ich nicht fliehen kann", ergänze ich murmelnd. Und ärgere mich schon wieder. Lauter und etwas boshaft füge ich daher hinzu: "Aber deine Fans mögen, was du so machst. Sie wollen die immer gleichen Geschichten über Rotwein und Rosen und nassen Asphalt und den ganzen Quatsch." "Eben", hält er dagegen, gemessen an seiner hanseatischen Gelassenheit fast aufgeregt. "Deshalb mache ich ja jetzt etwas völlig anderes."

Ich erinnere mich daran, noch am Morgen nervige Trompetenklänge aus dem Heizungskeller gehört zu haben. So sehr anders kann das also kaum werden, was Sven Regener da ausbrütet. Ich lasse endgültig die Zeitung sinken und sehe, dass er eine Lederjacke trägt. Und eine Sonnenbrille. Offenbar genügt mein Blick, um ihn die unausgesprochene Frage wiederholen zu lassen: "Du fragst dich, was das soll..." "Nein", unterbreche ich ihn, "ich frage dich, was das soll." Er nimmt die Sonnenbrille ab und zwinkert Richtung Deckenbeleuchtung. "Ich hab einfach keinen Bock mehr darauf, für alle immer der intellektuelle Chansonnier und Schriftsteller zu sein. Ich will runter, zum Bodensatz der Populärmusik. Ich will rocken!" Ich überlege kurz, ob ich ihn darauf hinweise, dass es möglicherweise ein Gesetz dagegen gibt, die Worte "Chansonnier" und "Populärmusik" so kurz vor dem Verb "rocken" zu verwenden. Oder dass es dieses Gesetz zumindest geben sollte. Ich denke an Heino, an Jan Delay und daran, wie sich eine Stromgitarre in meinem Heizungskeller anhören könnte. Ich rechne im Kopf durch, welche Auswirkungen der Verlust der eher unregelmäßig gezahlten Miete eines Bremer Sängers und Autors auf meine monatliche Finanzplanung hätte. Dann fällt mir ein, dass ich gar keine Finanzplanung mache, schon gar nicht monatlich.

"Herzlichen Glückwunsch", sage ich. "Diesmal hast du es geschafft." Sven Regener wohnt jetzt nicht mehr in meinem Heizungskeller.

Neulich habe ich ihn in der Talkshow eines so genannten "dritten Programms" gesehen. Es ging um Ehrlichkeit. Er stellte sein neues Album "Element of Rock" vor, auf dem er und seine Band unter anderem "Rock you like a hurricane" und "We will rock you" spielen. Mit deutschen Texten. Ich schaltete den Fernseher aus und griff zur Zeitung. Alles richtig gemacht. Ganz ehrlich.


Teil eins der Sven-Regener-Trilogie gibt es hier. Teil zwei hier.
Und mehr zum Thema gibt's hier.

Samstag, 19. Juli 2014

Herzensangelegenheiten

Wenn ich an der Macht bin, kommen sie alle auf die Baumwollfelder, die feindseligen Frevler, die das Wort "Rock" missbrauchen. Versprochen. Es gibt nämlich genau zwei korrekte Definitionen dieses viel zu häufig und viel zu gern falsch verwendeten Begriffs.

Die eine beschreibt ein Kleidungsstück, das nicht nur von traditionsbewussten Schotten getragen wird. Die andere lässt sich am besten erläutern, indem man erklärt, was sie keinesfalls aussagt, unter keinen Umständen und noch nie. Der Begriff "Rock" steht für nichts, was Zeitgenossen wie Heinz Georg Kramm oder Jan Phillip Eißfeldt je gemacht haben.

"Denn es liegt wohl im Trend, dass jeder, der das Wort kennt, nicht mehr ganz genau weiß, was Rock eigentlich heißt", mahnten bereits die Sportfreunde Stiller. (Die dieses Jahr übrigens glücklicherweise erkannt haben, dass die Zahl 2014 in kein Reimschema passt.) Und da liegt der Hase im Pfeffer beziehungsweise in erwähntem Baumwollfeld. Wenn ein Volksmusikbarde wie Heino auf einmal in G'n'R-artigen T-Shirts rumläuft (die er vermutlich Leibchen nennt) und einen Totenkopfring trägt, wie er allenfalls Keith Richards oder Billy Gibbons zusteht, hat das mit Rock soviel zu tun wie das Album "Hammer & Michel". Monatelang hatte Jan Delay gehofft, sein Panik-Pate Udo habe ihm mehr mitgegeben als die Bestätigung, dass Hüte irgendwie doch gehen. Leider war dem nicht so. Zwar ließ der Beginner-Boss keine Gelegenheit aus, in irgendein Mikro die Namen klassischer Rockbands zu quäken. Letztlich klang der Grund seiner Bemühungen trotz Titeln wie "Scorpions-Ballade" oder gar "Wacken" aber bestenfalls, als habe seine übliche Funk-Kapelle den Bläsern mal 'nen freien Abend gegönnt. Oder wie der verzweifelte, aber halbherzige Versuch, das Konzept von Selig einfach zu wiederholen. (Und die waren bereits retro.) Heino, der übrigens teils die gleichen Lieder nachspielte, die kurz zuvor der ähnlich fürchterbare Gunter Gabriel aufgenommen hatte, tat indes, wie ihm geheißen. War er bislang "der erste Grüne", so gab er nun den "echten Rocker". Kein Talkshow-Sofa, kein Infotainment-Auswurf war vor ihm sicher.

Gekrönt wurde das Drama mit einem öffentlich ausgetragenen Schaukampf der beiden selbsternannten Rock-Giganten - ähnlich subtil wie die Sage, irgendwelche Originalinterpreten hätten Herrn Kramm (lässt sich herrrrrlich rrrrrollen) verklagt. Tatsächlich war den Ärzten oder Westernhagen natürlich herzlich schnuppe, wer da ein paar Zusatzeuros in die Kleingeldkasse schaufelt. Und Herrn Delay sowieso. Gemeinsam pinkelten sie also auf die Gräber der Götter, Brüder im spukenden Geiste und vereint durch ihr Wappentier, die Sonnenbrille. Und unter steter Bewässerung rotierten die wahren Rocker, deren Namen nicht in einem Atemzug mit ihren Grabschändern genannt werden sollen.

Wie gut, dass die Überlebenden von all dem nichts mitbekamen. In Übersee, auf der Insel und in Skandinavien kennt nämlich keine Sau den wahren Heino und den Mann, der nicht möchte, dass ihr seine Lieder singt. Und auch dort nicht, wo der Pfeffer wächst, wo Hase und Baumwollfeld sich gute Nacht sagen. Wortmissbrauch und Leichenschändung. Wartet's nur ab!

Sonntag, 18. Mai 2014

Herzensangelegenheiten

"H.R. Giger ist tot. Und Blumfeld sind zurück. Kein guter Tag." Diese Nachricht erreichte neulich mich und mit Verzögerung auch mein Hirn. Wobei mich der zweite Satz noch etwas mehr beunruhigte als der erste.

"Der Rock'n'Roll endet hier", hatte der Rolling Stone seinerzeit getitelt, als die Band um Jochen Distelmeyer ihren völlig unverdienten Durchbruch schaffte. Und der große Bernd Begemann empfahl: "Fühl dich nicht ständig betroffen, Jochen." Beides half nichts. Von allen Seiten kamen sie und erzählten mir, wie kaum fassbar gut Blumfeld doch seien, und auf dem Schulhof sah ich mich plötzlich zufallssolidarisiert mit einem eher prolligen Metal-Drummer, der sich den Namen der Band nicht merken konnte oder wollte und sie immer "Blumenfeld" nannte.

Ich war ohnehin kein besonders großer Anhänger der Hamburger Schule, mochte aber, wie Die Sterne groovten, und war davon überzeugt, dass Tocotronic ihre Texte für mich geschrieben hatten. Aber Blumfeld? Distelmeyer drückte schon durch seinen verkniffenen Gesichtsausdruck aus, dass er einen ominösen "Anspruch" hatte, er sich mehr als dichtenden Deichgrafen verstand, der auf das Geschehen unter ihm mit der gleichen Verachtung herabsah wie ein Oberstufen-Musterschüler auf die naiven Neulinge auf der anderen Seite des Flurs. Dort allerdings war ich zu Hause, obwohl kaum noch naiv und nicht mehr neu in der Welt der Musik. Und ich schützte mich vor der Welle der Begeisterung, die das Blumfeld-Debüt "Ich-Maschine" unter den euphorisierten Mitläufern in meinem Bekanntenkreis entfachte, mit Ignoranz.

Rein dienstlich musste ich mich Distelmeyers Diskurs-Disco sogar mehrfach live und direkt entgegenstellen. Ansonsten hielt ich einfach die Klappe, wenn um mich herum darüber debattiert wurde, wie lebensverändernd die Texte des Wahl-Hamburgers (pah!) doch seien. Die klangen dann so: "Und hör nicht auf Prozess und Technik und mich selbst zu buchstabieren, Zeiträume neu im Sinn von weiter formulieren." Was zum..?! Wer singt denn sowas? Das kann man schreiben, meinetwegen, und gern auch lesen. Aber nichts davon hörte sich an, als sei es tatsächlich zu dem  Zweck verfasst worden, als Liedtext Verwendung zu finden. Dementsprechend nichtssagend fiel denn auch die musikalische Begleitung der mal schalen, mal verkopften, immer öden Lyrik des "Meisters" aus. "Verstärker" (so heißt das Lied, aus dem das Zitat stammt) kam als Gitarren-Fingerübung daher, gespielt von Menschen, die gerade eben entdeckt haben, was eine Rückkopplung ist, und die Smashing Pumpkins leider falsch verstehen. Und das war auch schon das Maximum an Rock, an Rebellion und Radau, zu dem Blumfeld fähig waren.

Ich weiß natürlich, dass nichts davon tatsächlich zu den selbstgesteckten Zielen von Dichter Jochen und seinen Gefolgsleuten gehörte. Aber zu meinen - damals und manchmal noch heute. Und das bringt uns zur Gegenwart: Im Spätsommer touren Blumfeld wieder durch die Republik. Das mag manchen freuen - obwohl: Denkt wirklich jemand verzückt daran, wie toll es einst war, Texte nicht zu kapieren und von Musik nicht gepackt zu werden? Mich jedenfalls freut es nicht, heute wie damals ist mir die literarisch bewegte Band egal, aber immerhin nicht mehr egal genug, um zu schweigen.

Ich wünsche Jochen Distelmeyer alles Gute, politisch steht er ja auf der richtigen Seite des Flurs. Meinetwegen darf seine Konzertreise auch zum Triumphzug werden, sollen seine an die Münchener Freiheit erinnernden Spätwerke auch ruhig nochmal in die Charts einziehen. Ich bleibe bei meiner Meinung: Der soll doch ein Buch schreiben! Hm. Vielleicht haben wir ja doch was gemeinsam...

Montag, 21. April 2014

Kino-Kritiken: "The Return Of The First Avenger" / "The Amazing Spider-Man 2: Rise Of Electro"

Es dürfte eine Weile her sein, dass wir Zeuge der Geburt eines neuen Filmgenres werden durften. Aber Ende des vergangenen Jahrtausends geschah genau das: "Blade" war der Startschuss zur Etablierung der Sparte "Superheldenfilm", und niemandem vor oder hinter der Kamera war das bewusst. Auch wir vor der Kinoleinwand ahnten es nicht.

Doch war die Blutsaugermär mit Wesley Snipes als sonnenbebrilltem "Daywalker" so erfolgreich, dass sie nicht nur zwei Fortsetzungen nach sich zog, sondern zugleich den Weg ebnete für weitere Comic-Verfilmungen. Anderthalb Jahrzehnte später reißen sich Oscar-Preisträger um Nebenrollen in einem längst etablierten Genre, das unter anderem den amerikanischen Comic-Riesen Marvel vor der Insolvenz bewahrt hat. Vor allem das "Marvel Cinematic Universe" hat sich dank cleverer Strategie und konsequenter Verzahnung als Gelddruckmaschine erwiesen: Die Avengers und ihre Nebenkriegsschauplätze haben den Konkurrenten DC und seine verzweifelten Versuche, auch in Hollywood zu punkten, souverän abgehängt (Ausnahme: Nolans "Dark Knight"-Trilogie).

Was das alles mit "The Return Of The First Avenger" und "The Amazing Spider-Man 2: Rise Of Electro" zu tun hat? Zunächst mal erklärt es, weshalb der "deutsche" Titel des zweiten Solo-Abenteuers vom Käptn sich vom Originalnamen "Captain America: The Winter Soldier" unterscheidet. Die Kinobesucher der Republik werden von den Verleihfirmen gerne mal für dämlich gehalten - nur wo "Avenger" draufsteht, sind auch die Avengers drin. Und der Vergleich der beiden genannten Filme beweist, dass ein relativ neues Filmgenre irgendwann an den Punkt kommt, an dem nicht mehr alles super ist, auch wenn es um kostümierte Verbrecherjäger geht. (An dem Punkt waren wir dank "Elektra" und der "Fantastic Four" schon vor Jahren, aber im Kopf-an-Kopf-Rennen wird er noch deutlicher.)

Die (angebliche) Rückkehr des ersten Rächers überzeugt in allen Belangen. Wir bekommen natürlich das grandiose Action-Feuerwerk - wer glaubt, in den Trailern bereits alles gesehen zu haben, liegt komplett daneben -, aber wir sehen zudem gute Darsteller in einer spannenden Spionage-Geschichte, die auch ohne das Superhelden-Setting funktionieren würde. Das Drehbuch ist durchdacht und leistet sich kaum Hänger, die Cameos und Andeutungen liefern der Fangemeinde genug Stoff zum Diskutieren, und die Inszenierung der Russo-Brüder katapultiert uns direkt mitten ins Geschehen.

Zwei Jahre "nach New York", also der Handlung von "The Avengers", hat sich der aufgetaute Kriegsheld Steve Rogers (Chris Evans) einigermaßen mit der Gegenwart angefreundet. Mit Natascha "Black Widow" Romanoff (Scarlett Johansson) und anderen Agenten der Geheimorganisation S.H.I.E.L.D. - darunter Brock Rumlow (Frank Grillo) - bekämpft er besonders rabiate Bösewichte wie den algerischen Terroristen Batroc (Georges St. Pierre).

Auch privat scheint sich Captain America langsam einzugrooven: Sein neuer Kumpel Sam Wilson (Anthony Mackie) und erste Flirts mit der Nachbarin (Emily VanCamp) lassen ihn über die Verluste der Vergangenheit hinwegkommen. Nachdem Steve jedoch einmal mehr mit seinem Boss Nick Fury (Samuel L. Jackson) aneinandergerät und er einem Komplott innerhalb der Spionage-Organisation auf die Spur kommt, überschlagen sich die Ereignisse. Kollegen werden Freunde, Kameraden werden Gegner, Freunde werden Todfeinde - und nichts ist, wie es scheint. Der gefeierte Champion wird als vermeintlicher Verräter gejagt, die Situation eskaliert, und die Geister der Vergangenheit kehren zurück. Gut, dass sich der Captain auf die Schwarze Witwe verlassen kann - und dass sein bester Bro dem Begriff "Wingman" eine völlig neue Bedeutung gibt.

Erstaunlich: Evans hat sich nicht nur ordentlich Muckies draufgeschafft, sondern offenbar auch an seinen Schauspielkünsten gearbeitet. Jedenfalls nimmt man ihm den mutigen Mann aus einer anderen Ära nicht nur in den Actionszenen ab. In den leisen Momenten gelingt es ihm, die Melancholie, die den beinharten Helden letztlich menschlich macht, glaubhaft rüberzubringen. Der restliche Cast - darunter Altmeister Robert Redford als sinistrer Geheimdienstchef - überzeugt erwartungsgemäß. Evans, Jackson und Johansson leben ihre Rollen inzwischen geradezu und zeigen, dass bei allem berechtigten Dauerlob für Robert Downeys Iron Man auch die übrigen Marvel-Charaktere adäquate Darsteller gefunden haben. Die Story wird pfeilschnell erzählt, gönnt sich aber nötige Atempausen und treibt zudem das große Ganze weiter voran. Das "Marvel Cinematic Universe" ist genau das: ein geschlossenes Universum mit eigener Dynamik, in dem nichts ohne Konsequenzen bleibt. Und so ist man nach dem Kinobesuch einerseits zufrieden mit dem Gesehenen, andererseits mal wieder heiß auf weitere Kapitel dieses überlebensgroßen Dramas.

In diesem Universum ist Spider-Man übrigens nicht zu Hause. Die Rechte am Wandkrabbler liegen in der Hand anderer Verwalter, weswegen sich die Rächer und der Spinnenmann in absehbarer Zeit nicht auf der Leinwand über den Weg laufen werden. Den ersten Spider-Man-Film nach dem Reboot hatte ich seinerzeit euphorisch abgefeiert. Ich war froh, dass die neuen Kino-Abenteuer offenbar noch besser funktionieren als Sam Raimis Filmtrilogie. Und ich bleibe dabei: Andrew Garfield ist ein überzeugender Peter Parker. Auch die Actionsequenzen können sich nach wie vor sehen lassen, wenngleich man wegen des überbordenden CGI-Einsatzes mitunter den Eindruck hat, einen Trickfilm zu sehen.

Die Chemie zwischen Spider-Man und seiner Freundin Gwen Stacy (Emma Stone) stimmt - die beiden Schauspieler sind ja auch privat ein Paar -, das ist die große Stärke des zweiten "neuen" Netzkopf-Streifens. Leider webt Regisseur Marc Webb aus den emotionalen Szenen einerseits und den furiosen Kämpfen in New Yorks Straßenschluchten andererseits kein besonders reißfestes Netz. Spider-Man bekommt es diesmal mit gleich drei Gegnern zu tun - zumindest behauptet das die Werbung. Tatsächlich muss sich die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft fast ausschließlich mit seinem durchgeknallten Fan Max Dillon (Jamie Foxx) auseinandersetzen, der als Blitze schleudernder Electro aus kaum nachvollziehbaren Gründen zum Antagonisten wird. Ernsthaft: Hat irgendjemand verstanden, weshalb genau der vereinsamte Nerd so einen Hass auf sein einstiges Idol entwickelt? Dieser Wechsel wird eher behauptet als wirklich gezeigt. Das gilt auch für Peters Freundschaft zu Harry Osborn, den Dane DeHaan etwas zu deutlich als irren Berufssohn anlegt. Dessen Aufgabe ist es, im letzten Drittel des - übrigens viel zu langen - Films die Handlung dahin zu prügeln, wo wissende Comic-Leser sie erwarten.

Ohnehin - die Handlung... Anders als im "Marvel Cinematic Universe" dienen Anspielungen hier nur dazu, den Geeks ein paar Bröckchen hinzuwerfen. Randfiguren ohne nennenswerte Dialoge sind nach Charakteren aus den Comics benannt, ohne dass diese Handlungsstränge weitererzählt würden oder ein tatsächlicher Zusammenhang erkennbar wäre. Die Geschichte davon, was aus Peters Eltern wurde, wäre rasch erzählt, wird aber episch ausgewalzt und zum vermeintlichen Mysterium verklärt. Und wieder einmal laufen alle (Spinnen-)Fäden bei Oscorp zusammen, jenem geheimnisvollen Firmenkomplex im Herzen des Big Apple. Das macht die Story schlicht, für ein jüngeres Publikum vielleicht nachvollziehbarer, für jeden über 14 jedoch leider langweilig. Ein kurzer Dialog am Ende und ein Gang durch die erleuchteten Hallen lassen ahnen, dass die Produzenten von dieser Grundidee auch in den folgenden Filmen nicht abweichen werden.

Mein größtes Problem mit "TASM2ROE" (Abkürzungen sind großartig) ist jedoch, dass wir nur einem Puppentheater zuschauen. Nichts wird mit Leben erfüllt, keine der handelnden Personen kommt einem so nah, dass man mit ihnen fühlt oder zumindest ihre Motive versteht. Es wird erwähnt, dass Parker inzwischen als Pressefotograf jobbt, aber man bekommt die Redaktion des "Daily Bugle" nicht zu Gesicht. Zeit wird mit Hilfe des Wetters dargestellt - es fallen die Blätter, also ist wohl ein halbes Jahr vorbei. Und die beiden Bösewichte müssen sich minutenlang darüber unterhalten, dass sie Spider-Man hassen. Verständlicher wird das dadurch jedoch nicht.

Warum nur zwei Bösewichte? Weil Rhino (gespielt ausgerechnet vom kleingewachsenen Paul Giamatti) nur wenige Minuten lang zu sehen ist. Mehr Mogelpackung war selten, was allerdings zu verschmerzen ist, denn allein optisch ist der Kerl eher eine Lachnummer.

Beim nächsten Mal will ich J. Jonah Jameson sehen und Mary Jane, und ich will eine nachvollziehbare Handlung, die nicht nur dazu dient, einzelne Szenen sinnfrei miteinander zu verknüpfen. Dann bin ich bereit, den zweiten Teil als aufwändig gedrehten Ausrutscher zu verzeihen.

Bis dahin gibt es neun von zehn Metallarmen für "Captain America: The Winter Soldier" und drei von zehn Steinen am Ufer des Hudson River für den Netzschwinger.

Sonntag, 13. April 2014

Herzensangelegenheiten

Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Als die Afghan Whigs im KFZ spielten, hatten sie ihr gemeinhin als Meisterwerk gefeiertes Album "Gentlemen" noch nicht veröffentlicht, und auch mit der entsprechenden Attitüde hatte Greg Dulli nicht viel am Hut. Seinerzeit hatte der Mann mit schlechten Angewohnheiten zu kämpfen, zudem vielleicht einen ebensolchen Tag - auf jeden Fall verbuchte ich den Auftritt unter "ganz okay".

Ein Jahr später hörte ich zum ersten Mal den Titelsong der erwähnten Platte, der nicht nur auf Platz zwei meiner damaligen Afghan-Whigs-Lieblingslieder-Bestenliste hinter "Miles Iz Ded" rückte, sondern mich vor allem zum Fan machte. Dabei war nichts daran auf Hit gestrickt: Die Band aus Ohio galt immer als Schnittstelle zwischen Grunge und Soul, wobei diesmal die Seele überwog. Und die war tiefschwarz - wir tanzten zu einer Ode auf triste One Night Stands ("Your infection, please - I haven't got all night"). Vermutlich war es weniger der düstere Text, der die Zahl der Fans steigen ließ, sondern mehr die Melodie und dieser absolut einmalige, unnachahmliche Groove.

Endgültig geschehen war es um mich, als "Black Love" herauskam. 1996 war das; ich hörte das wahre Meisterwerk der Dulli-Gang mit den magischen Kopfhörern im "Musikladen". Mit denen klang zwar wirklich alles toll, vermutlich hätten einen auch schrammeligste Proberaum-Tapes begeistert. Aber "Blame, etc." wurde zum Song für die einsame Insel, die gleichfalls einsamen Nächte und traurigen Tage, zugleich die Hymne für sonnige Autofahrten, der Fußwipper für launige Feiern und das Lieblingsliebeslied, das man mit Mitte 20 nun mal braucht.

1998 folgte "1965", Pflichterfüllung und Abgesang und trotzdem besser als vieles, das in den Jahren nach dem Hype um Cobain und karierte Hemden auf den Markt geworfen wurde.

Jetzt sind sie wieder da. Ein halbherziger Comeback-Versuch Anfang des Jahrzehnts und Gregs wenig zwingende Experimentierphase mit anderen Projekten dürfen endgültig vergessen werden. "Do To The Beast" ist eine Aufforderung, die keine Weigerung duldet, von einem, der schlechte Angewohnheiten abgelegt hat und eben deshalb darüber singt. Von einem Gentleman, der keiner sein wollte. Von einem One Night Stand, der zur Liebe auf den zweiten Blick wurde.


It wasn't exactly love at first sight. When the Afghan Whigs played our local club, they hadn't released their commonly acclaimed "Gentlemen" album yet, and Greg Dulli didn't care much about his attitude. At that time the man seemed to have bad habits, maybe had a bad day as well - in any case I remember their performance as "okay".

One year later I heard the title song of the new record for the first time, which not only directly moved to second place of my Afghan Whigs favorite song list (behind "Miles Iz Ded"), but above all made me a fan. Though nothing about it was pop: The band from Ohio was always considered as an interface between grunge and soul, this time the soul outweighed. And it was a deep black soul - we danced to an ode to dull one night stands ("Your infection, please - I haven't got all night"). Anyway it wasn't the dark lyrics that raised the number of fans, but rather the melody and this absolutely unique, inimitable groove.

It finally happened to me when "Black Love" came out. That was in 1996; I listened to the true masterpiece of the Dulli gang with the magic headphones in our little record store. "Blame, etc." became my song for the lonely island, the lonely nights and sad days, as well as the anthem for sunny car rides, the footwipper for humorous celebrations and the favorite love song that you need in your mid-20s.

"1965" followed in 1998, duty fulfillment and swan song and still better than many of the albums that came out in the years after Cobain.

Now they are back. "Do To The Beast" is a request that doesn't tolerate any refusal, from one who has made some bad decisions and proudly sings about that. From a gentleman who never wanted to be one. From a one night stand that became true love at second glance.

Samstag, 15. März 2014

Herzensangelegenheiten

Neulich war ich für eine kurze Zeit Paul Newman. Das ist erstaunlich, denn erstens ist nicht mal mehr Paul Newman Paul Newman, sondern Torf. Und zweitens war das aus mehreren sehr unterschiedlichen Gründen nicht ganz einfach.

Einer davon: Ich war ganz kurz Paul Newman, weil und obwohl ich Billard spielte. Zum zweiten Mal und entsprechend schlecht. Bis es mir gelang, gleich zweimal nacheinander jeweils eine Kugel in ein dafür vorgesehenes Loch zu befördern. (Keine Ahnung, ob es tatsächlich "Kugel" und "Loch" heißt, aber es heißt ganz sicher nicht "befördern".) Und Paul Newman spielt ja in "The Color of Money" ebenfalls Billard, wenngleich ungleich besser.

Glücklicherweise fiel mir spontan nicht ein, welche Musik im Film zu hören ist (für Komplettisten: Eric Clapton), sondern der Soundtrack einer Szene, die nicht unwesentlich zu Paul Newmans Berühmtheit beigetragen hat: In "Butch Cassidy and the Sundance Kid" tanzt Butch quasi auf einem Fahrrad, und dazu läuft "Raindrops Keep Fallin’ on My Head". Was irgendwie auch besser passte.

Grundsätzlich ist es so, dass man sich die musikalische Tonspur des Lebens nicht immer aussuchen kann. Sicher kann man sich darauf konzentrieren, lässig zu James Brown durch die tristen Straßen seiner Stadt zu marschieren, um sie etwas weniger trist zu machen. Aber meist füllt doch irgendein Ohrwurm die Lücke zwischen zwei Szenen und den eigenen Ohren. Muss man akzeptieren. Wichtig ist nur: Singt nicht laut mit! Kann peinlich werden, wenn man in der Schlange beim Bäcker "Fuck you - whoo-hoo-hoo" singt oder im Büro das Schlagzeug-Intro von "Live is Life". Denn unser privater Soundtrack ist ähnlich wie der einer James-Bond-Actionszene: Er passt nicht immer zur Situation. Beweis dieser These: Bei mir läuft gerade "Happy". Da ist es wichtig, cool zu bleiben. Wie Paul Newman.

Mittwoch, 5. Februar 2014

Herzensangelegenheiten

Zugegeben: Alles fing an mit "Born In The USA". Letztlich sind wir alle Kinder unserer Zeit, und ich war elf Jahre alt, als Springsteen seine missverstandene Hymne sang. Natürlich war mir egal, dass da jemand die sozialen Probleme und zwischenmenschlichen Abenteuer in seiner Heimat beschrieb. Aber die Musik bewegte mich, und je öfter ich das Album hörte, desto mehr Lieblingslieder entdeckte ich. Das war so spannend wie die Frage, warum sich jemand eine Mütze in die hintere Tasche seiner Jeans knäult.

Über einen Freund lernte ich "The River" erst kennen, dann verstehen und schließlich lieben. "Born To Run" folgte, leichter konsumierbar und in allen Belangen groß und mächtig. Mit "Nebraska" hatte ich mehr zu tun, ehe diese Platte ein Begleiter für mein weiteres Leben wurde.

Dann verloren wir uns aus den Augen, der Boss und ich, denn seine neue Musik klang seltsam mutlos und langweilig, seine Begleitmusiker waren die falschen, und erst "The Ghost Of Tom Joad" versöhnte Bruce mit dem Rest der Welt und auch mit mir. Fortan blieb er, schrieb immer wieder Texte - längst waren mir auch diese wichtig -, die mein Leben zu beschreiben schienen, und Lieder, die mich durch dieses Leben führten.

Seine Version von "Trapped" war da, als niemand sonst da war und ich buchstäblich im Regen stand. In "Dancing In The Dark" geht es um mich, das lasse ich mir nicht ausreden. Und "Nebraska" vertreibt nach wie vor die Stille in der Dunkelheit.

Nun hat der Mann aus New Jersey einen weiteren Helden ins Boot geholt: Tom Morello hat immer noch Wut auf die Maschine und ist sicher ein Bruder im Geiste des wahren "hardest working man in show business". Ihr gemeinsames Werk "High Hopes" ist eine krude Liedersammlung und schon jetzt relativ sicher mein Album des Jahres, wegen Morellos Gitarre und der Stimme des Meisters, der auch nach all den Jahrzehnten noch etwas zu sagen hat.

"Hey, Mann", soll ein Fan ihm nach 9/11 zugerufen haben, "wir brauchen dich jetzt." So geht mir das seit 1984.

Mehr zum Boss. Seine Diskografie.

Montag, 13. Januar 2014

Herzensangelegenheiten

"Warum ist euer neues Album nicht noch tanzbarer geworden?", fragte ironisch der Mitarbeiter einer mittlerweile längst eingestellten Musikzeitschrift. Und Bono antwortete mit der gleichen Ironie: "Weil unser Drummer nicht noch tanzbarere Beats spielen konnte. Er hat's versucht, aber es ging einfach nicht."

Der Grund für soviel vermeintlich lustigen Sarkasmus hieß "Achtung Baby" und machte schon mit dem Titel klar, dass man sehr genau hinhören sollte, um zu verstehen, was da passiert. In den 80er Jahren wurden Musik und Gestus von U2 gerne mit Adjektiven wie "bodenständig" oder "erdig" versehen. Das sollte wohl andeuten, dass inmitten einer durchaus von seinerzeit moderner Elektronik geprägten Popmusik vier wackere Iren tapfer dagegenhielten. Dabei hatten ihre Songs streng genommen nicht viel zu tun mit dem, was damals als klassisch rockend galt. Sie waren nicht vom Blues beeinflusst (zumindest hörte man das nicht), sie standen selten breitbeinig auf der Bühne (höchstens mal im Video), und ihren Frisuren widmeten sie augenscheinlich nicht besonders viel Aufmerksamkeit.

All das änderte sich nicht über Nacht, sondern schleichend - und zwar schon drei Jahre vor Veröffentlichung ihres erwähnten "Berliner Albums". Bereits auf "Rattle & Hum", einem so kruden wie genialen Sammelsurium von Live- und Studioaufnahmen, das als Soundtrack zum gleichnamigen Film gedacht war, wurde es tanzbar ("God Part II"), war ein alter Blueser zu hören (B.B. King auf "When Love Comes To Town"), klangen U2 noch wütender als gewohnt (etwa auf der Live-Version von "Bullet The Blue Sky").

Mehr ging nicht, denn dem Triumph folgte die Krise. Statt die Band aufzulösen, gingen die eher unfreiwilligen Stadionrocker in sich - und ins Studio. Das stand eben in Berlin, und wenn Musiker aus Übersee oder von der Insel in Berlin aufnehmen, klingt das Ergebnis grundsätzlich urban statt "bodenständig" oder gar "erdig". Wie zuvor die Herren Bowie, Pop und Reed brachten U2 dunkel schillernde Geschichten mit, als sie sich wieder an die Öffentlichkeit wagten. Nichts war wie vorher. Tatsächlich zeigten sich neue Stücke wie "Mysterious Ways" oder die erste Single "The Fly" beeinflusst vom Anfang der 90er angesagten Rave-Sound aus Manchester. Die einst flächige New-Wave-Gitarre von The Edge klang mehr nach Funk und scharfen Riffs als je zuvor. Und aus Bono, dem Messias seiner Fans (und der Feuilletonisten), war die Karikatur "Macphisto" geworden, ein zynisch grinsender Verweigerer in schwarzem Leder und mit riesiger Sonnenbrille.

Nicht nur eingangs zitierter Schreiber zeigte sich irritiert. Wir Fans hatten durchaus zu knabbern an dem neuen Werk. Doch wie das mit dem Knabbern so ist - hat man einmal damit angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Dem ersten Schock folgte Akzeptanz, schließlich Begeisterung. Und in den folgenden Jahren pendelten sich U2 stilsicher ein, irgendwo im Niemandsland zwischen gestrigen Hymnen und neu entdecktem Pioniergeist. Allein: So richtig spannend wurde es nie wieder. Manchmal erscheint eine Platte eben genau zum richtigen Zeitpunkt. Und noch seltener merkt man erst später, dass der Zeitpunkt richtig war.

Wieviel Anteil Schlagzeuger Larry Mullen jr. tatsächlich daran hatte, ist übrigens nicht überliefert. Macphisto wollte es nicht verraten. Und Bono hat längst wieder genug damit zu tun, die Welt zu retten. "It's no secret that a liar won't believe anyone else."