Montag, 10. Juni 2013

Herzensangelegenheiten

"Haste gelesen?", fragt Sven Regener, sprachlich ungewohnt nachlässig, inhaltlich gewohnt nervig. Er wedelt mit der aktuellen Ausgabe des Rolling Stone herum, was ich glücklicherweise nur höre und nicht sehe, denn natürlich ignoriere ich ihn und drehe mich nicht zu ihm um.

Er ist mein Mieter, nicht mein Kumpel. Sven Regener selbst benutzt gern den Begriff "Untermieter", was irgendwie cool klingen soll, aber Blödsinn ist. Die Hütte gehört mir, der feuchte Heizungskeller auch. Er bewohnt ihn nur.

Während ich mich darüber ärgere, durch eine simple Frage an verhasste Themen erinnert geworden zu sein, raschelt der "Rolling Stone" weiter, und Sven Regener legt nach: "Den Artikel hier, haste den gelesen?" Ich antworte nicht, was er einmal mehr als Aufforderung missversteht, seine Frage um eine Ausführung zu ergänzen: "Der Mick sagt, der Keith und er seien gar nicht wie Brüder, sondern eher wie Kollegen." Mein Ärger über die sinnlosen Artikel wird durch die Freude über den korrekten Konjunktiv abgemildert. Deshalb drehe ich mich nun doch um und antworte.

Und zwar: "Bist du sicher, dass du darüber mit dem Richtigen sprichst? Immerhin habe ich einige Jahrzehnte gebraucht, um zu kapieren, weshalb die Stones so beliebt sind. Da ist es zu früh, mich mit ihrem Privatleben zu beschäftigen. Ich hatte eigentlich vor, damit zu warten, bis sie..." "Warum bist du eigentlich immer so ein Arschloch?", unterbricht Sven Regener mich und weckt weitere unangenehme Erinnerungen. An den Klang seiner rostigen Trompete zum Beispiel, die samstags um 6 Uhr sogar den Rasenmäher des Nachbarn übertönt. Und da fragt er ernsthaft, weshalb ich... "Das ist doch spannend", unterbricht er erneut, diesmal meine düsteren Gedanken. "Ich dachte immer, die sind Freunde." Kein Konjunktiv ist auch eine Lösung.

Ich gehe zwei Schritte auf ihn zu und schaue auf ihn herunter. (Sven Regener ist kleiner als ich.) "Woher willst du denn wissen, was Freunde sind?", knurre ich und hoffe vergeblich, ihn mit dieser Bosheit verletzt zu haben. Dabei weiß ich es besser. Neulich hatte er nämlich ein paar Freunde zu sich eingeladen. Den ersten streckte ich noch an der Tür mit einer rechten Geraden nieder. Einfach weil er Jochen Distelmeyer war. Der zweite entkam meinem linken Haken durch rasches Hakenschlagen, was sich so unangenehm literarisch liest, dass es meine Antipathie noch verstärkt: Tom Liwa soll ja ein Netter sein. Aber das denken die Leute auch von Sven Regener. Immerhin habe ich verhindert, dass sie zusammen Musik machen.

"Freunde sind", beendet mein Mieter (ha!) zum dritten Mal mein Kopfkino, "Menschen, die für einen da sind, obwohl sie es nicht müssten." "Wer muss denn für einen da sein?", will ich wissen. "Na, aus Sicht der Gesellschaft doch wohl die Familie, Verwandtschaft, Ehe- oder Beziehungspartner", überlegt er laut. "Ich sollte ihn doch rausschmeißen", überlege ich leise. Und sage (Lautstärke irgendwo dazwischen): "Freunde sind die Familie, die man sich aussucht."

Sven Regener schweigt, denn ich habe recht. Das wissen auch der Mick und der Keith.