Dienstag, 17. Mai 2011

Das Leben ist live

Was man vor, neben und hinter der Bühne erleben kann:

16. Februar 1991: Anlässlich eines erneuten Gastspiels der U.K. Subs haben sich 299 Punks und ich im Marburger KFZ versammelt. Nach einer Stunde 77er-Klassiker aus der Konserve taucht ein kleiner, alter Mann auf. Mit großer Mühe kämpft er sich durch die lederbejackten Horden, kassiert die eine oder andere hämische Bemerkung und jede Menge verächtlicher Blicke. Schließlich erreicht Charlie Harper die Bühne, greift zum Mikro, und das Konzert beginnt. 299 Punks glotzen dämlich. Ich grinse.

30. Oktober 1991: Die Pogues treten in der Offenbacher Stadthalle auf. Shane MacGowan ist nicht dabei, dafür der großartige Joe Strummer. Nach einem halben Akkord versuchen die Konzertbesucher, sich gegenseitig zu töten. Erste Erfolge stellen sich direkt vor dem Absperrgitter ein: Ich diffundiere Richtung Fotograben. Mein Leben zieht an mir vorbei (was zu diesem Zeitpunkt noch nicht besonders viel Zeit in Anspruch nimmt). Mit physischer Gewalt kämpfe ich mich durch den tobenden Mob. Atmen wird häufig unterschätzt.

27. Juni 1992: Mein einziges Ramones-Konzert dauert etwa anderthalb Minuten. Arm in Gips, keine Schmerztabletten mehr - den Fans ist der Grund für den Abbruch des Gigs reichlich schnuppe. Beim Versuch, die Bühne des Bizarre-Festivals in Alsdorf zu stürmen, werden sie von den Ordnern mit Eisenstangen verdroschen. Nicht schön, aber Punk. Schätze ich.

10. Juli 1993: Nochmal Bizarre, diesmal auf der Loreley. New Order spielen als Letzte, sind aber langweilig. Der Fahrer drängt zum Aufbruch. Aber niemand hört auf mich, weil Jule noch nicht am vereinbarten Treffpunkt ist. Schade eigentlich. Wir warten in der Dunkelheit auf das Ende ihres spontanen Schäferstündchens. Immerhin: Die LevellersHelmet und Therapy? waren gut.

2. Mai 1997: Die Absoluten Beginner sind ein bisschen aufgeregt. Ihr Debütalbum läuft ganz gut, und nun stehen sie auf der Bühne im KFZ. Ich fotografiere. Ein kleiner Junge spricht mich an und stellt sich als Tourmanager vor. Er befiehlt mir, ihm die Fotos später zu schicken, damit er eine Auswahl treffen könne. Ich schaue auf ihn herab und schlage vor: "Oder ich fotografiere einfach weiter, und du verpisst dich." So machen wir es dann.

5. Juli 1997: Jan Eißfeldt ist sauer. Von der Schlossparkbühne aus schimpft der spätere Herr Delay auf etwas, das er "Oberhessenzeitung" nennt. Diese habe ihren Drummer gedisst. "Er meint mich", rufe ich fröhlich zurück. Schöner Tag.

12. Oktober 2000: Hätte ich Eintritt bezahlt, hätte ich schlechte Laune. Howe Gelb, Sänger und Gitarrist von Giant Sand, die mich einige Jahre zuvor an gleicher Stelle - im KFZ - begeistert hatten, hat zu viel von allem genommen. Statt zu singen und Gitarre zu spielen, fällt er lallend ins Schlagzeug. Clemens neben mir ist restlos begeistert, erzählt was von "Dekonstruktivismus" und "Genialität". Ich beschließe, mit beidem nichts anfangen zu können.

11. September 2001: Bernd Begemann spielt mal wieder im KFZ. Allerdings lieber "Die Apokalypse erreicht Borkhorst" statt "Die witzige WG". Zu Hause zu sitzen ist aber auch nicht besser. Die Welt geht unter. Gleich morgen.

23. Juli 2003: Andy "Falco" Falkous schlägt sich das Mikro ins Gesicht. Als er anfängt, übel zu bluten, beenden Mclusky nach zwei Stunden ihr Konzert im Café Trauma. Kunst?

5. November 2008: "Richard", ruft Sabine. "Kann der Markus vor dem Auftritt ein paar Fotos machen? Das ist ein netter, befreundeter Journalist." - "Soll kommen", antwortet Richard Rogler. Der Anruf hat sich gelohnt. Das Kabarett-Urgestein (so nennt man seinesgleichen im Bratwurst-Feuilleton) ist ebenfalls nett. Hält still, will was über Marburg wissen. Baut mein Halbwissen ins Programm ein. Auch 'ne Idee: Gagschreiber.

Donnerstag, 14. April 2011

Herzensangelegenheiten


"And no one dared disturb the sound of silence." (Paul Simon)

Es ist still. Manchmal muss das einfach sein. Eigentlich sogar oft. Wenn etwas ständig vorhanden ist, verliert es nämlich an Bedeutung. Das gilt auch und besonders für Musik.

Farin Urlaub hat mal in einem Interview erzählt, dass er privat selten Musik höre, damit diese nicht zur akustischen Tapete verkomme. Macht er also wieder mal was richtig. "Bei uns läuft eigentlich immer Musik", wunderte sich neulich eine Besucherin. Und einige Wochen zuvor stellte ein anderer Gast fest: "Mir wäre es hier zu ruhig." Stimmt: Meist ist gar nichts zu hören. Kein Straßenlärm. Keine Stimmen. Und eben auch keine Musik.

Denn etwas derart Wertvolles erfordert volle Aufmerksamkeit. Es muss zur Stimmung passen. Den Zuhörern etwas bedeuten. Das heißt nicht, dass Musik nie zu ihrem Recht kommt. Zweimal täglich, am Wochenende häufiger, tragen die Geschichten von Mike Ness die Welt herein, bereiten tausendfach gehörte Melodien auf den Tag vor, lassen die Akkorde der Metal-Helden meiner Jugend den Alltag vergessen, untermalt die Stimme von Tom Waits den Sonnenuntergang, zerschneidet der Klang neuer Lieblingsplatten die Dunkelheit. Dazu wird dann aber gefälligst nicht gebügelt, telefoniert oder gelesen. Dann wird einfach nur Musik gehört. Leise per Kopfhörer, deutlich lauter aus altgedienten Eigenbau-Boxen.

Das hat den Vorteil, dass jene Musik, die keine Bedeutung hat, tatsächlich nur als Tapete im Hintergrund hängt. "Du kennst doch alles - was läuft denn da gerade?" Diese Frage kann ich in Oberstadtkneipen oder gar in der Fußgängerzone selten beantworten. Oder allenfalls mit: "Keine Ahnung, ich höre nichts." Dazu ist es nämlich zu still.

Mittwoch, 13. April 2011

Kino-Kritik: "Sucker Punch"

Eingeweihte wissen schon lange: Zack Snyder stellt Form über Inhalt. Wer sich einen seiner Filme ansieht und dann daran stört, beschwert sich auch auf'm Tom Waits-Konzert über die Stimme.

Snyders Fieberträume sehen aus wie Meat Loaf-Plattencover: Mädels tragen Schuluniformen und großkalibrige Waffen, mit denen sie gegen Steampunk-Zombiesoldaten, chromblitzende Roboter und feuerspeiende Drachen kämpfen. Und er verfilmt sie, weil er's kann. Das ist nicht anspruchsvoll, sondern unterhaltsam. Es gibt viel zu sehen in "Sucker Punch" - und offen gestanden: Genau dafür gehe ich ins Kino.

Trotzdem sei allen Trailergläubigen eine Warnung ins Gebetbuch gekritzelt: Das Nichts an Handlung ist nicht charmant, sondern trist. Scott Glenn als David Carradine bemüht sich, ein wenig Schauspielerkino zwischen die glatt gebügelten Actionsequenzen zu mogeln. Und das Augenzwinkern am Ende der Zitate-Achterbahn sieht man nur mit Mühe und scharfem Kennerblick.

Kann man so machen. Sollte man sogar. Aber ich mag ja auch Tom Waits.

Macht vier von fünf abgehackten Samurai-Köpfen.

Montag, 14. März 2011

Herzensangelegenheiten

Es gehört ja längst zum guten Ton, es tönen zu lassen. Wer sich in einem so genannten sozialen Netzwerk öffentlich macht, feiert dort auch gern seinen Musikgeschmack. Das kann Spaß machen, Diskussionen provozieren, und sehr oft ist es völlig egal.

Wenn dieser Tage jedoch in Japan die Sonne untergeht, Hamsterkäufer in die Supermärkte und vermeintliche Experten in die Fernsehstudios eilen, ist der Kopf zwar voller Gedanken, aber um Musik drehen diese sich selten. Wen soll man auch singen lassen? Welche Lieder sind der Soundtrack zur Katastrophe?

Nachdem vor zehn Jahren in New York die Türme fielen, musste ich an der Kaufhauskasse einen fast unfassbaren Dialog mitanhören. Eine Kundin fragte in der Plattenabteilung nach dem Lied, das sie am Vortag in einer Reportage darüber gehört hatte, was seinerzeit noch nicht 9/11 hieß. Die freundliche Verkäuferin gab sich große Mühe, die gute Frau zufriedenzustellen. Also steckte sie ihr nicht nur die Maxi-CD der Lighthouse Family in die Tüte (Maxi-CD! Lighthouse Family! "Unglaublich", würde Olli Geißen rufen). Nein, sie packte noch was von Enya drauf - dazu ein unverbindliches Lächeln und die Worte: "Das ist ja mein Favorit." Kommen Sie näher, meine Damen und Herren, wir präsentieren Ihnen die zehn beliebtesten Hits zum Untergang!

Zurück in die Gegenwart: Ich habe also in den vergangenen Tagen sehr, sehr kurz darüber nachgedacht, "The Final Countdown" zu posten, quasi als Spex-geprüfte Tongue-in-cheek-Retro-Hommage. Dann fiel mir "Godzilla" von Blue Öyster Cult ein, was mich zum grimmig grinsenden Zyniker gemacht hätte, also ebenfalls eine ganz wunderbare Idee. Entschieden habe ich mich schließlich für die Fehlfarben: "Apokalypse (Ernstfall)", natürlich.

Toll, dass es zu jedem Anlass einen Song gibt. Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder. Ein Lied geht um die Welt. Um die schöne, neue. Klappe zu.

Sonntag, 13. Februar 2011

Herzensangelegenheiten

Ich greife zum Stift und beginne zu schreiben. Ich mühe mich ab, bekämpfe dunkle Mächte im klaren Mondlicht. Keine Sorge, mir geht's gut. Aber so beschreiben Faithless das Phänomen der Schlaflosigkeit, das unter all den Themen, mit denen sich ein Liedtext so beschäftigen kann, eher ein Schattendasein fristet.

"Ich bin so verrückt, ich kann heute Nacht nicht schlafen", lassen uns die La's (nur echt mit Apostroph) wissen. Und die Kinks berichten davon, jede Nacht Schafe zählen zu müssen. "Es ist schwer, zu sagen, dass ich lieber wach sein würde, wenn ich gerade schlafe", heißt es hingegen im bislang einzigen Hit von Owl City. Und eine besonders schöne Zeile ist Neil Finn von Crowded House eingefallen: "Du kannst den Schlaf bekämpfen, aber nicht den Traum."

Liebe und Hass, Leben und Tod, Bühne und Straße - davon handeln die klassischen Geschichten eines Popsongs. Wer jedoch mal 56 Stunden am Stück - komplett rauschmittelfrei - wach war, der weiß um die Bedeutung von Schlaf. Viel existenzieller geht's nicht, abseits der genannten Schlagwörter, im Schatten.

Es gibt Menschen, die sich im Dunkeln fürchten. Die Furcht vor dem Unbekannten hält sie wach, während sie mit angstweiten Augen in die Schwärze starren. "Es ist nur das Biest unter deinem Bett", beruhigt James Hetfield, "in deinem Kleiderschrank, in deinem Kopf." Die Angst ist unbegründet. Die Nacht ist wie der Tag, nur dunkler. Was wir wirklich fürchten sollten, spielt sich in uns selbst ab.

Bühne und Straße, Leben und Tod, Liebe und Hass - Gedanken halten uns wach. Unbarmherzig tickt die Uhr, während wir grübeln und immer wieder daran erinnert werden, dass wir doch eigentlich schlafen sollten. Sogar müssen. Kein mir bekanntes Lied präsentiert uns eine Lösung für dieses Problem. Die muss man sich im Zweifel selbst suchen. Wieso sollte sie auch in der Plattensammlung zu finden sein? Meine lautete: Akzeptanz. Die Probleme sind morgen früh auch noch da, und sie werden nicht weniger, wenn man sich gegen vermeintlich dunkle Mächte wehrt.

Du kannst den Schlaf bekämpfen, aber nicht den Alptraum.